Pressekonferenz zum Welttag der Behinderten am 3. Dezember 2003

und zum ausgehenden Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung

Thema: Anspruch und Wirklichkeit in der Politik für Menschen mit Behinderung - Resümee zum Ende des Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung (EJMB)


Statement

Das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen stand unter der Losung des Europäischen Behindertenforums "Nichts über uns ohne uns". Dieses Ziel hat die Bundesregierung in diesem Jahr nur teilweise umgesetzt. Zwar haben behinderte Menschen in der Eröffnungsveranstaltung des EJMB 2003 die Probleme beschrieben und die Ziele definiert, die in die Magdeburger Erklärung eingeflossen sind. Bei wesentlichen Gesetzesvorhaben gab es aber keine angemessene Beteiligung. Der in der letzten Legislaturperiode formulierte Paradigmenwechsel in der Politik für Menschen mit Behinderung und chronisch kranken Menschen, eine auf Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung ausgerichtete Behindertenpolitik zu betreiben und behinderte Menschen in jeder Phase einzubeziehen, wurde nicht eingelöst. Wir fordern daher, dass die bei den Veranstaltungen praktizierte intensive Beteiligung behinderter Menschen auch in der Gesetzgebung praktiziert werden muss.

Im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen wurden etwa 600 Anträge zur Förderung von Veranstaltungen und Aktivitäten an die Nationale Koordinierungsstelle für das EJMB 2003 im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gestellt. Darüber hinaus wurden ca. 1000 Projekte zum EJMB durchgeführt. Aus Mitteln der EU, der Bundesregierung und des Ausgleichsfonds für die Teilhabe wurden über 180 Projekte finanziell unterstützt. Nicht zufriedenstellend, oft enttäuschend, war der Besuch dieser mit großem Engagement vorbereiteten und durchgeführten Workshops, Tagungen und Kongresse durch Politiker und Ministerialbeamte. Auch die Berichterstattung über diese Veranstaltungen in den überregionalen Medien war unbefriedigend. Um die zahlreichen interessanten Anregungen, Ideen und Vorschläge zu bündeln und diese in einen Aktionsplan umzusetzen, plant die Nationale Koordinierungsstelle mit dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen eine Tagung zur umfassenden Auswertung des EJMB und zur weiteren Umsetzung der Ziele des EJMB im Februar 2004 durchzuführen.

Die bei der Eröffnungsveranstaltung von behinderten Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Magdeburg formulierten Forderungen sind der Maßstab des Deutschen Behindertenrates für eine erste Bewertung und Bilanz.



Hervorzuheben sind vor allem:

Gleichstellung

In Magdeburg forderten wir die Politik auf, noch im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen einen Gesetzentwurf für ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz vorzulegen. Ein solches Gesetz soll dazu dienen z.B. den Ausschluss behinderter Menschen aus privaten Kranken- und Lebensversicherungen zu verhindern, die Verweigerung der Beförderung im Luftverkehr zu unterbinden, Diskriminierungen in Gaststätten oder bei der Aufnahme in Vereine zu vermeiden. Trotz der Zusage des Behindertenbeauftragten und der Gesundheitsministerin sowie der Ankündigung im Koalitionsvertrag wurde dieses Gesetz nicht verabschiedet.

Um den eingeschlagenen Weg der Gleichstellungspolitik fortsetzen zu können, ist die Schaffung von wirksamen Landesgleichstellungsgesetzen von großer Bedeutung. Bereits 2001 traten in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz Landesgleichstellungsgesetze in Kraft. In diesem Jahr haben Bayern und Brandenburg ein Landesgleichstellungsgesetz verabschiedet. In der Mehrzahl der Bundesländer stehen diese Gesetze noch aus. Wir fordern daher eindringlich die säumigen Bundesländer auf, sich aktiv in den Kampf an der Beseitigung von Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Menschen zu beteiligen und Landesgleichstellungsgesetze zu erarbeiten und zu beschließen.

Die Unterstützung der Bundesregierung für eine UN-Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen und für eine umfassende europäische Richtlinie gegen ihre Diskriminierung war ein positives Zeichen in diesem Politikbereich.


Arbeit

Arbeit bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und stellt daher eine zentrale Aufgabe der Politik für Menschen mit Behinderung dar. Der Deutsche Behindertenrat hat an der Novellierung des Schwerbehindertengesetzes mitgewirkt und die von der Bundesregierung initiierte Kampagne "50.000 Jobs" für mehr Beschäftigung behinderter Menschen unterstützt. Im Oktober 2002 haben wir zur Kenntnis nehmen können, dass für einen Monat das ehrgeizige Ziel beinahe erreicht wurde. Leider zeigte sich in den folgenden Monaten, dass mit dem Ende der Kampagne ein rascher Anstieg der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen folgte. Gegenwärtig sind etwa 165.000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet, d.h. dass die Zahl der arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten längerfristig nicht wie vorgesehen um 50.000 sondern nur um 20.000 gesenkt werden konnte. In Ostdeutschland ist gar keine positive Entwicklung zu erkennen.

Wir fordern:

  • die Bundesanstalt für Arbeit auf, sich ihrer Verantwortung für mehr Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aktiv zu stellen;
  • die öffentliche Kampagne der Bundesregierung zur Information und Motivation der Unternehmen und der Arbeitgeber umgehend fortzusetzen;
  • einen strategischen Schwerpunkt bei der verbesserten Ausbildung vor allem in betrieblichen Strukturen und Formen zu setzen. Kürzungen bei Berufsbildungswerken für behinderte Jugendliche und Berufsförderungswerken für behinderte Erwachsene sind dabei kontraproduktiv.


Barrierefreiheit

An der schrittweisen und zugleich zügigen Herstellung von Barrierefreiheit messen wir die Vorhaben zur Gleichstellung und Sicherung von Chancengleichheit behinderter Menschen in der Gesellschaft. Ausgehend von der umfassenden Definition von Barrierefreiheit im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes sollen Behindertenbeauftragte, Behindertenbeiräte und Behindertenverbände umfassend an der Umsetzung des Gesetzes beteiligt werden. So registrieren wir in einigen Bundesländern, bei einigen Aufgabenträgern und Unternehmen eine erfreuliche Bereitschaft zur Beteiligung. Zum Beispiel wurden behinderte Menschen bei der Abfassung von Nahverkehrsplänen beteiligt. Eine Lücke besteht aber bei der Beteiligung zu den Planungen im schienengebundenen Nahverkehr. Auch beim Fernverkehr fehlt noch die Bereitschaft der Deutschen Bahn AG für die barrierefreie Umgestaltung der Bahnhöfe, eine Zeitplanung in ihrem Programmentwurf aufzunehmen.

Zur Unterstützung der Aktivitäten der Verbände vor Ort hat der DBR Musterzielvereinbarungen für Verhandlungen mit privaten Unternehmen sowie Standards der Barrierefreiheit im ÖPNV für die Verkehrsplanung erarbeitet. Wir fordern alle Verantwortlichen auf, in den Kommunen, Bundesländern und in den Bundesbehörden ihre Anstrengungen zur Herstellung der Barrierefreiheit zu verstärken. Die Vertreterinnen und Vertreter der Medien bitten wir, mit uns gemeinsam gute Beispiele zu propagieren und die Schaffung neuer Barrieren anzuprangern. Gemeinsam sollten wir dafür eintreten, dass die Barrieren in den Köpfen der Menschen eingerissen werden.


Ethik

Der Deutsche Behindertenrat fordert eine Ethik, die das Lebensrecht behinderter Menschen schützt. Vehement wenden wir uns gegen eine Aufweichung der geltenden deutschen Regelungen, z.B. im Embryonenschutzgesetz unter dem Vorwand "Beseitigung von Wettbewerbsnachteilen" und warnen vor Konsequenzen.

Der DBR lehnt die Auffassung der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, dass extra-uteral gezeugte Embryos keine Menschenwürde haben, ab und protestiert gegen den Beschluss des Europäischen Parlaments, verbrauchende Embryonenforschung finanziell zu fördern. Insbesondere kritisiert der DBR dagegen, dass deutsche Abgeordnete im Europäischen Parlament damit einer in Deutschland verbotenen Praxis zustimmten. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung diese Praxis im Rat vorerst gestoppt hat. Andererseits verurteilen wir, dass die Bundesregierung ein weltweites umfassendes Klonverbot durch Beschluss der Vereinten Nationen mit mehrfach wechselnden Begründungen verhindert hat.


Solidarische Gesundheitsversorgung

Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzungen in diesem Jahr war das Ringen um eine solidarisch gestaltete Gesundheitsreform. Wir stellen fest, dass dies nicht gelungen ist. Immer mehr bleibt die Solidarität auf der Strecke.

Die Leistungsnehmer tragen zu etwa 80 Prozent die Lasten der neuen Regelungen. Nur ca. 20 Prozent werden den Leistungserbringern aufgebürdet. Wir lehnen diesen Weg der übermäßigen Belastungen für behinderte und chronisch kranke Menschen ab. Das GKV- Modernisierungsgesetz ist völlig ungeeignet, die strukturellen und finanziellen Probleme im deutschen Gesundheitswesen zu lösen.

Wir fordern stattdessen:

  • das Solidarprinzip in der GKV , die paritätische Finanzierung und das Sachleistungsprinzip zu stärken und auszubauen;
  • Maßnahmen zur Prävention und zur Gesundheitsförderung in Zusammenarbeit und unter
  • Mitwirkung der Betroffenenorganisationen trägerübergreifend zu entwickeln und umzusetzen;
  • die Patienten als Case-Manager im Leistungsgeschehen in den Mittelpunkt aller notwendigen Maßnahmen zu stellen;
  • das Gesundheitssystem den besonderen Bedürfnissen chronisch kranker und behinderter Menschen durch individuelle Behandlungsprogramme, Schulungskonzepte und Beteiligungsrechte der Selbsthilfeorganisationen anzupassen.


Zur Einordnung der Eingliederungshilfe in ein SGB XII

Völlig überraschend und ohne Beteiligung der Behindertenverbände legte die Bundesregierung im August dieses Jahres einen Gesetzentwurf zum SGB XII vor, der das bisherige Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ablösen soll. Das BSHG wurde vor über 40 Jahren als Netz für außergewöhnliche Notlagen geschaffen. Inzwischen kommt der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen eine immer größere Bedeutung zu. Daher stellt sich die Frage, ob diese in einem Gesetz, das dem Fürsorgegedanken verhaftet ist, nicht ordnungspolitisch falsch platziert ist. Eine leistungsrechtliche und bedarfsgerechte Ausgestaltung der Eingliederungshilfe ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen als Anspruch auf "Soziale Teilhabe" im SGB IX wäre heute wesentlich angemessener.
Wir fordern daher:

  • Einkommen und Vermögen nicht mehr heranzuziehen. Die beabsichtigte erhebliche Senkung der Freibeträge geht dabei in eine völlig falsche Richtung;
  • das Prinzip der Bedarfsdeckung abzusichern;
  • ein persönliches Budget einzuführen, dass ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und die persönliche Assistenz als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umfasst.


Verbesserte Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher

Wir müssen feststellen, dass es im Jahr 2003 zu keiner grundlegenden Verbesserung der Situation behinderter und chronisch kranker Kinder und deren Familien gekommen ist. Behinderte und chronisch kranke Kinder sind mit ihren Familien nach wie vor mit einem hohen Armutsrisiko belastet .

Wir fordern:

  • die Frühförderung bedarfsgerecht auszubauen, sowie die Beratung von Eltern durch Eltern zu sichern;
  • wohnortnahe Strukturen, z.B. Spezialambulanzen
  • Kürzungen im Gesundheitswesen, die Kinder betreffen aufzuheben.

Das Ringen um die Gestaltung und Ausgestaltung einer angemessenen Behindertenpolitik in den nächsten Jahren beschränkt sich nicht nur und vorrangig auf die Finanzierung von Leistungen. Es entscheidet auch darüber, was für eine Gesellschaft nach den Umbrüchen des vergangenen Jahrzehnts in Europa entsteht. Wir wollen eine Gesellschaft für alle Menschen, eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Selektion.

Abschließend stellen wir fest, dass gerade im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, welches für mehr Teilhabe und Chancengleichheit behinderter Menschen wirbt, die bis 2002 seitens der Bundesregierung praktizierte Beteiligung der Behindertenverbände an der Gesetzgebung und an der Vorbereitung umfangreicher Gesetzgebungsverfahren nicht weitergeführt wurde. Die Gremienarbeit hierzu wurde formal organisiert, wichtige Anhörungen im Bundestag hatten Alibicharakter. Wir gehen davon aus, dass eine erfolgreiche Behindertenpolitik nur mit den behinderten Menschen und ihren Organisationen konzipiert und umgesetzt werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Bundesregierung zu Formen der Einbeziehung und Beteiligung aus der 14. Legislaturperiode zurückkehrt. Hier ist die Politik gefordert. Die acht Millionen behinderten und chronisch kranken Menschen werden aufmerksam beobachten, welchen Weg die Politik in Deutschland gehen wird.

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