Bundesrepublik Deutschland - Bildungschancen für alle?

Rede von Swantje Köbsell, Universität Bremen, anlässlich des Parlamentarischen Abends des DBR am 3. Dezember 2008

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, liebe Mitglieder des Deutschen Behindertenrates,

wahrscheinlich würde niemand der hier Anwesenden die Titelfrage mit "ja" beantworten. Zu deutlich haben die Ergebnisse der PISA-Studien und anderer Untersuchungen gezeigt, dass die Bildungschancen in Deutschland sehr ungerecht verteilt und von vielen Einflussfaktoren abhängig sind.

Zu nennen wären unter anderem hier ökonomische Lage und Bildungs- sowie eventueller Migrationshintergrund der Eltern, die wie in kaum einem anderen westlichen Land die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Ein weiterer bedeutender Faktor wird jedoch in der Bildungsdebatte nie benannt: Für die Bildungschancen eines Kindes ist es von entscheidender Bedeutung, ob es eine Beeinträchtigung hat – und wenn eine solche vorliegt, in welchem Bundesland es lebt. Die gesetzlichen Vorgaben für die Beschulung als behindert diagnostizierter Kinder in den 16 Bundesländern sind nämlich nicht einheitlich.

So variieren die Regelungen hinsichtlich einer gemeinsamen Beschulung mit nichtbehinderten Kindern erheblich: Ist sie in Bayern und Thüringen nur als Ausnahme vorgesehen, ermöglichen die Schulgesetze von Berlin und Bremen eine weitgehende gemeinsame Beschulung (GEW 2008). Entsprechend unterschiedlich ist dann auch der Anteil gemeinsam beschulter behinderter Kinder: von 5Prozent in Niedersachsen bis 45Prozent in Bremen, wobei es sich in Bremen vor allem um Kooperation und nicht um Integration im eigentlichen Sinne handelt.

Die Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher ist in der aktuellen Debatte kein Thema – es ist, als ob sie nicht existieren. Weil sie in einem Parallelsystem unterrichtet werden, kommen sie dann auch tatsächlich nicht in der Bildungsdebatte vor, die sich vor allem um die Zusammenlegung von Schularten und den Erhalt des Gymnasiums drehen.

Auch der viel zitierte Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik ist am Bildungsbereich spurlos vorbei gegangen, trotz Gleichstellungsgesetzen und Gleichbehandlungsgesetz werden behinderte Kinder und Jugendliche hier immer noch durch Ausgrenzung diskriminiert. Die wenigsten Sonder- und Förderschülerinnen und –schüler beenden ihre Schulzeit mit einem anerkannten Schulabschluss, was wiederum ihre Chancen auf Ausbildung und Erwerbstätigkeit und damit auf ein selbstbestimmtes Leben erheblich einschränkt.

Das Bildungssystem ist damit am Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Behinderung unmittelbar beteiligt. Das immer wieder vorgebrachte Argument zur Begründung der angeblichen Notwendigkeit der Sonderschulen, durch sie Integration zu bewirken, entspricht nicht der Realität.

Die Behindertenrechtskonvention der UN (BRK) bezieht eindeutig Stellung gegen ein Sonderbildungssystem. In Artikel 24 heißt es unmissverständlich "Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen".

Absatz zwei spezifiziert: "Menschen mit Behinderungen (sollen) nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und (...) Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden." Nach dem Wortlaut der Konvention sollen

b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;

c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;

d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet (werden), um ihre erfolgreiche Bildung zu fördern;

e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Inklusion wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden."

Darüber hinaus finden sich bildungsrelevante Aspekte auch in vielen anderen Artikeln der BRK, z.B.:

Artikel 7 - Kinder mit Behinderungen -: "Die Vertragsstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können."

Artikel 8 Bewusstseinsbildung: "Die Vertragsstaaten verpflichten sich (...)in der gesamten Gesellschaft, (---), das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern (...), Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, (...) zu bekämpfen. Dazu gehört nach dem Wortlaut der Konvention auch "die Förderung einer respektvollen Einstellung gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems"

Artikel 9 – Barrierefreiheit - erwähnt ausdrücklich Schulen und aus Artikel 6 - Frauen mit Behinderung – lässt sich ableiten, dass auch geschlechtsspezifische Aspekte in der Bildung berücksichtigt werden müssen.

Die Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention (BRK) durch die Bundesregierung hätte zur Folge, dass alle Weichen im Bildungssystem – bzw. den 16 Bildungssystemen der Bundesländer - auf Inklusion gestellt werden müssten, was sicherlich die größte Herausforderung in der Umsetzung der BRK sein wird. Es wird dann unumgänglich, sich von einem lang tradierten Denken zu trennen, das Kinder und Jugendliche in bildungssystemtaugliche und –untaugliche aufteilt.

Auch die inzwischen 30 Jahre alte Diskussion um Integration hat diese dichotome Denkweise nicht aufbrechen können, auch hier wird letztendlich zwischen integrationsfähigen und –unfähigen Menschen unterschieden. In diesem Kontext ist es wichtig, sich die in der BRK verwendeten Begriffe anzuschauen: Im englischen Original ist die Rede von einem "inclusive education system" – in der offiziellen deutschen Übersetzung von einem "integrativen Bildungssystem".

Nun mag man denken, dass es Haarspalterei sei, sich um diese Begriffe zu streiten, letztendlich bezeichneten sie doch denselben Sachverhalt. Dies ist jedoch nur scheinbar so. Sieht man sich die Geschichte dieser Begriffe und die um sie geführten Diskurse genauer an wird deutlich, dass sie nicht den gleichen Sachverhalt bezeichnen und es deswegen sehr wohl darauf ankommt, welchen Begriff man verwendet. Integriert wird, was vorher segregiert – also von der Allgemeinheit getrennt - wurde.

Impliziert ist die Entscheidung der Gesellschaftsmehrheit darüber, wen sie bereit ist zu integrieren und wen nicht, was ein großes Machtungleichgewicht bedeutet: Der Mainstream entscheidet über die als Minderheit eingestuften und ihre graduelle Zulassung zur Teilhabe an der Gesellschaft – nicht die behinderten Menschen selbst.

Nicht umsonst war das Verhältnis der Behindertenbewegung zu "Integration" von Anfang an von Misstrauen geprägt. Der Begriff wurde als Ausdruck der Anpassung behinderter Menschen an die Normen und Vorstellungen der Gesellschaft kritisiert. "Integration" wurde als passiver Vorgang (integriert werden) gesehen im Gegensatz zur aktiven "Emanzipation" (sich emanzipieren).

Früh wurde beschrieben, dass Integrationsinitiativen immer von Nichtbehinderten ausgingen, ohne dass darüber gesprochen wurde, was das Leben in der Welt der "Normalen" für Behinderte bedeutete – nämlich Druck zur Anpassung. Diese Einschätzung zieht sich als Roter Faden durch die Geschichte der Behindertenbewegung und wird inzwischen auch von vielen Bildungsforscher/innen geteilt.

Inklusion hingegen ist etwas ganz anderes: Hier wird nicht danach gefragt, wer zur Teilhabe geeignet ist und wer nicht, vielmehr geht es darum, Bedingungen zu schaffen, die von Anfang an allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe im Bildungssystem ermöglichen.

Das heißt nur ein inklusives Bildungssystem eröffnet allen Menschen mit Beeinträchtigungen den in der BRK festgeschriebenen Zugang zu Bildung als Menschenrecht. Es ist aus diesem Grunde unerlässlich, dass die offizielle deutsche Übersetzung der BRK noch einmal überarbeitet wird und die Sinn verfälschenden Übertragungen korrigiert werden, wie dies bereits in der "Schattenübersetzung" des Netzwerks Artikel 3, auf die ich mich hier beziehe, geschehen ist.

Artikel 24 hat nicht nur weit reichende Konsequenzen für das Schulsystem, sondern auch für die zukünftige Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, und zwar allen Lehrkräften, denn in einem inklusiven Bildungssystem muss davon ausgegangen werden, dass in jeder Klasse ein oder mehrere Kinder mit Beeinträchtigungen lernen. Darauf müssen Lehrerinnen und Lehrer vorbereitet sein.

In der BRK werden hierfür Schulungen genannt, die "die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein(schließen)." Dem sollte ein Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen, Bildern und Mythen von Behinderung vorgeschaltet sein. Zu klären wäre auch, was behinderte Kinder stark und selbstbewusst macht. Eine Erziehung zur "Quasi-Normalität", zur Anpassung, wie sie von vielen nichtbehinderten Professionellen zu befürchten ist, sicherlich nicht. Doch wie muss Unterricht sein, müssen Lehrer/innen sein, die einen solchen Prozess unterstützen anstatt in Normalität zu "integrieren"?

Wie muss Inklusion ausgestaltet und organisiert werden, damit sie eben nicht Anpassung an die Normalität der Nichtbehinderten ist, sondern den Bedürfnissen behinderter Kinder gerecht wird? Wie lernen sie sich in ihrem "Anders-Sein" wertschätzen? Wer vermittelt ihnen, dass sie Rechte haben? Wo bekommen sie Rollenvorbilder, bekommen eine Idee davon, wie es ist, mit einer Beeinträchtigung erwachsen zu werden/sein, welche Möglichkeiten sie dann im Leben haben? Dies alles sind Fragen, die im Rahmen einer inklusiven Bildung zu beantworten sind.

Gerade letzte Woche hat vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stattgefunden, auf der sich alle Sachverständigen – bis auf den Arbeitgeberverband – darin einig waren, dass die BRK zügig ratifiziert und umgesetzt werden sollte.

Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass dies den Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell von Behinderung befördert und hilft, nicht nur aber gerade auch im Bildungswesen ausschließende Mechanismen und Verhaltensweisen zu identifizieren und abzuschaffen. Die Sinn verfälschende Begrifflichkeit der deutschen Übersetzung wurde von der Mehrheit der ExpertInnen moniert und eine entsprechende Korrektur gefordert.

Die Ratifizierung und Umsetzung der BRK bietet Deutschland die Chance, das in vielen Bereichen ausgrenzende und nicht zum Lernen ermunternde Bildungssystem grundlegend zu reformieren. Dass Inklusion funktionieren kann, wenn die entsprechenden Bedingungen geboten werden, und zwar sowohl für die behinderten wie auch die nichtbehinderten Schüler und Schülerinnen, haben zahlreiche Schulversuche und Erfahrungen aus dem Ausland gezeigt.

Zu diesen Bedingungen gehört auch, dass es kein flächendeckendes Parallelsystem mehr gibt, denn so lange es existiert, wird es immer scheinbare Sachzwänge geben, es zu nutzen. Im Hinblick auf die entstehenden Kosten haben Berechnungen ergeben, dass ein inklusives Bildungssystem mittel- bis langfristig in der Regel billiger ist als der Unterhalt eines dualen Systems (GEW 2008, 31).

Schließen möchte ich mit Thesen, die wir auf der ISL-Tagung "Visionen 2020" zum Thema Bildung entwickelt haben und die aufzeigen, wie ein inklusives Bildungssystem aussehen könnte:

1. Das viergliedrige Schulsystem gibt es nicht mehr. An seine Stelle ist eine Schule für alle getreten, in der Kinder/Jugendliche in zentralen Fächern gemeinsam (Klassenverband) bis zum Erreichen der Ausbildungsreife unterrichtet werden. Auf unterschiedliche Begabungen und Förderbedarfe wird grundsätzlich durch entsprechende Angebote im gemeinsamen Unterricht reagiert (Binnen-/ Lernzieldifferenzierung).

2. Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf wohnortnahe Beschulung ohne Außendifferenzierung.

3. Alle Schulen sind personell, sachlich und baulich so ausgestattet, dass sie den neuen Erwartungen auch entsprechen können.

4. In der Lehrersausbildung wird eine Pädagogik für alle gelehrt. Dazu gehört auch, dass alle LehramtsstudentInnen sich mit dem Thema Behinderung auseinandersetzen müssen.

5. Behinderte Kinder und Jugendliche werden ermuntert und gefördert, ihre Beeinträchtigung als wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit zu sehen und zu akzeptieren, anstatt sie zu verdrängen oder zu kompensieren.

6. Inklusion in der Schule ist deshalb erfolgreich, weil auch in anderen zentralen Lebensbereichen Inklusion gelingt. Dies gilt besonders für die Bereiche Arbeit und Wohnen.

Die Beibehaltung unseres derzeitigen Bildungssystems wäre nach der Ratifizierung der BRK ein Verstoß gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen, mit dem sich die Bundesrepublik ein echtes Armutszeugnis ausstellen würde. Was jetzt gefragt ist, ist eine politische Willenserklärung für die Ratifizierung der BRK und damit für ein inklusives Bildungssystem – sowohl auf Länder- wie auf Bundesebene. Diese Willenserklärung ist die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die Bundesrepublik zukünftig allen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen wirkliche Bildungschancen bieten kann.



Bielefeld, Heiner (2008): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, 2. Aktualisierte Auflage
http://files.institut-fuer-menschenrechte.de/488/d59_v1_file_483c0ec25c80e_Behindertenrechtskonvention_ES.pdf

GEW (2008): Gutachten zu den völkerrechtlichen und innerstaatlichen Verpflichtungen aus dem Recht auf Bildung nach Art. 24 des UN-Abkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zur Vereinbarkeit des deutschen Schulrechts mit den Vorgaben des Übereinkommens
BRK_Gutachten_finalKorr.pdf" target="_blank" title="Dieser externe Verweis öffnet ein neues Browserfenster" class="m">http://www.gew.de/Binaries/Binary36538/080919_BRK_Gutachten_finalKorr.pdf

Schöler, Jutta (2008): Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 24. November 2008 in Berlin zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 16(11)1213, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a11/anhoerungen/jUNKonvention/eStn_Schoeler.pdf

United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Optional Protocol
http://www.un.org/disabilities/documents/convention/convoptprot-e.pdf

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