Teilhabe national und international

Rede von Walter Hirrlinger, Vorsitzender des Sprecherrates des Deutschen Behindertenrates, anlässlich des Parlamentarischen Abends des DBR am 3. Dezember 2008

Blickt man auf das Jahr 2008 zurück, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie rasant sich der Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft und der damit verbundenen politischen Debatten vollzogen hat: Während wir Anfang des Jahres noch über Teilhabe aller am wirtschaftlichen Aufschwung diskutierten, sind die Vorzeichen für das Wahljahr 2009 völlig andere: Es geht darum, die Wirtschaft vor dem Absturz zu bewahren und zu verhindern, dass arme, chronisch kranke und behinderte Menschen nicht die Zeche für eine Krise zahlen, die sie nicht zu verantworten haben.

Unter behinderten Menschen geht jedenfalls die Befürchtung um, dass sie die ersten sein werden, die von der Wirtschafskrise mit voller Wucht erfasst werden. Es trifft Menschen, die nach wie vor in vielen Lebensbereichen massive Benachteiligungen erfahren: Barrieren behindern die Mobilität oder die Kommunikation behinderter Menschen, Produkte sind nicht zugänglich und Eltern behinderter Kinder dürfen nicht frei wählen, welche Schule ihr Kind besucht.

Die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen ist immer noch 50 Prozent höher als die nicht behinderter Menschen. In einigen europäischen Ländern werden unter dem Eindruck der Krise bereits Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen zur Disposition gestellt. Die im DBR zusammen arbeitenden Behindertenverbände sind jedenfalls aufmerksam und werden Bestrebungen dieser Art mit allem Nachdruck bekämpfen.

Manches ist in der zu Ende gehenden Legislaturperiode auf den Weg gebracht worden – ich erwähne nur das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als unverzichtbare dritte Säule neben SGB IX und Behindertengleichstellungsgesetz. Einiges ist unerledigt geblieben wie die Reform der Eingliederungshilfe. Will man ein Resümee der Behindertenpolitik der vergangenen Jahre ziehen, so muss man trotz mancher erzielter Fortschritte feststellen, dass Anspruch und Wirklichkeit noch immer weit auseinanderklaffen.

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, deren Ratifikation durch Deutschland kurz bevor steht, formuliert diesen Anspruch auf eine zeitgemäße Weise. Die im DBR zusammen arbeitenden Behindertenverbände begrüßen die Ratifikation – sofern es bei dem Verzicht auf Vorbehalte und Interpretationserklärungen bleibt - ausdrücklich.

Den in der Konvention formulierten Ansprüchen müssen aber auch Taten folgen: Die im DBR zusammen arbeitenden Verbände haben 10 Forderungen für eine zeitgemäße Behindertenpolitik für die nächste Legislaturperiode formuliert, die ihnen im Vorfeld zugeschickt wurden. Die Forderungen reichen von der Barrierefreiheit über die Themenfelder Beschäftigung und Gesundheit bis zu Frauen mit Behinderungen. Da ich nicht auf alle Bereiche eingehen kann, muss ich mich auf einige wenige Anmerkungen beschränken:

Will man den besorgniserregenden und mitunter empörenden Vorgängen im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise etwas Positives abgewinnen, so ist es sicher die gewachsene Einsicht, wie unverzichtbar der Staat als Garant einer funktionierenden Wettbewerbsordnung und wie wichtig ein koordiniertes Vorgehen auf globaler und europäischer Ebene sind. Dies ist die logische Schlussfolgerung daraus, dass Wirtschaft zunehmend verflochten ist und auch die Inanspruchnahme von Gütern und Dienstleistungen zunehmend grenzüberschreitend erfolgt.

Dies gilt auch für behinderte Menschen: Insofern ist es folgerichtig, dass die EU Kommission eine Richtlinie vorgelegt hat, die sicherstellen will, dass behinderte Menschen gleichberechtigten Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, zu sozialer Sicherheit, zu Gesundheitsdiensten, Bildung und sozialen Vergünstigungen bekommen wie alle anderen Menschen auch.

Es ist schon erstaunlich, dass eine solche Richtlinie, die das diskriminierungsfreie Funktionieren des Wettbewerbs intendiert, in Deutschland auf so erbitterten Widerstand stößt. Nirgendwo in Europa ist die Richtlinie so negativ aufgenommen worden wie in Deutschland - eine Tatsache übrigens, die in anderen Teilen Europas auf Unverständnis stößt und manchen über die behindertenpolitische Rückständigkeit Deutschlands mutmaßen lässt.

Besonders die Arbeitgeberverbände tun sich mit einer aggressiven und zum Teil irreführenden Kampagne hervor. Leider hat sich die Bundesregierung, zumindest der tonangebende Teil, diese Argumente zueigen gemacht.

Ich will das am Beispiel der Barrierefreiheit erläutern: Hier zeigt sich einmal mehr, dass Teile der deutschen Wirtschaft sich manchmal schwer tun, die Zeichen der Zeit zu erkennen und Innovationen beherzt anzugehen. Das war beim Klimaschutz so und das ist auch bei der Barrierefreiheit so. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Mit dem demographischen Wandel ändern sich die Kunden und ihre Bedürfnisse.

Ein Beispiel: Gegenwärtig sind 4,8 Millionen Menschen jenseits der 50 noch einmal umgezogen, im Jahr 2020 werden es 5,8 Millionen sein. Wer im Alter über 50 umzieht – das zeigen Studien -, möchte vorrangig die Wohnsituation im Alter verbessern, sprich: Er oder sie sucht nach einem barrierefreien Standort. Diese Anforderungen werden auch an den Handel, an Arztpraxen und ähnliches gestellt werden. Es ist an der Zeit, dass sich die Wirtschaft auf diese Entwicklungen einstellt.

Dazu will die EU Richtlinie einen Beitrag leisten: Die Richtlinie verlangt von allen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, dass sie vorausschauend und im Einzelfall angemessene Vorkehrungen treffen, um behinderten Menschen einen barrierefreien Zugang zu ermöglichen. Dies gilt nicht, wenn die Maßnahme eine unverhältnismäßige Belastung darstellt oder eine grundlegende Veränderung der Dienstleistung erfordern würde.

Deutschland hat mit den Behindertengleichstellungsgesetzen bereits viele Vorarbeiten geleistet: Im sogenannten geregelten Bereich, also was die öffentliche Hand bei Baumaßnahmen und Internet betrifft oder beim Schienenverkehr und im ÖPNV können die Vorgaben der Richtlinie als weitgehend umgesetzt gelten.

Im Wohnungsbereich sind gewisse, allerdings niedrige Quoten für barrierefreie Wohnungen vorgesehen. Auch bei öffentlich zugänglichen Gebäuden im privaten Bereich, also bei Verkaufsstätten, Arztpraxen oder Gaststätten, sehen die Landesbauordnungen - was Neubauten angeht - die Verpflichtung zur Barrierefreiheit vor. Allerdings gibt es hier ein deutliches Umsetzungsproblem. Für alle diese Regelungen gilt allerdings: Der Altbestand bleibt außen vor.

Das Beispiel anderer Länder – ich nenne hier Großbritannien oder Österreich -, in denen bereits ähnliche Regelungen wie die der EU Richtlinie in Kraft sind, zeigt, dass angemessene Vorkehrungen oft nicht teuer sein müssen und im übrigen durch den Verweis auf unverhältnismäßige Belastungen abgefedert sind.

Beispielsweise haben Wirtschaftsminister Glos und der DIHK die Befürchtung geäußert, die Richtlinie führe dazu, dass Restaurants ihre Speisekarte und der Handel die Preisauszeichnung in Blindenschrift vornehmen müssten. Dies ist falsch: Eine angemessene Vorkehrung kann sein – und so wird es in Großbritannien gehandhabt -, dass sich das Verkaufspersonal die Zeit nimmt, einem blinden Menschen die Produkte und ihre Preise zu erläutern. Ggf. kann ergänzend die Speisekarte in einer größeren Schriftgröße ausgedruckt werden, um sehbehinderten Menschen gerecht zu werden.

Der Einbau eines Aufzuges in einen Altbau wird vermutlich in vielen Fällen als eine unverhältnismäßige Belastung gewertet werden, weil es die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überfordert. Um Bedenken gegenüber dem barrierefreien Umbau des Altbestands entgegen zu kommen, könnte darüber nachgedacht werden, nach österreichischem Vorbild Übergangsregelungen festzulegen, die ein stufenweises In-Kraft-treten ermöglichen.

Interessant am österreichischen Vorbild ist, dass die Regierung dort Maßnahmen zur Schaffung von Barrierefreiheit im privaten Bereich finanziell fördert. Wenn jetzt über verstärkte öffentliche Investitionen in die Infrastruktur zur Stützung der Konjunktur diskutiert wird, wäre ein solches Förderprogramm ein lohnenswertes Vorhaben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich auf eine konstruktive Diskussion mit den Behindertenverbände zur Gestaltung der Richtlinie einlässt. Wir sind dazu bereit.

Lassen Sie mich abschließend noch auf zwei Punkte kurz zu sprechen kommen: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass im nächsten Jahr die Arbeitslosigkeit wieder steigen wird und die Bundesagentur auf die Rücklagen zurückgreifen muss, um die Defizite im laufenden Haushalt auszugleichen. Um eine Politik nach Kassenlage zu verhindern, fordern die im DBR zusammen arbeitenden Verbände, dass die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung wie Eingliederungszuschüsse für behinderte Menschen in Pflichtleistungen umgewandelt werden.

Eine anderer Bereich: Die Hilfsmittelversorgung. Die Regelungen zur Ausschreibung, Auswahl und Aufzahlung bei Hilfsmitteln widersprechen dem im SGB IX verankerten Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen. Dass das SGB IX diesbezüglich keine Wirksamkeit entfaltet, ist kein Einzelfall. Deshalb sind Änderungen im SGB IX und im SGB V erforderlich.

Meine Damen und Herren, wir stehen vor zahlreichen Landtagswahlen, Europawahlen und der Bundestagswahl.
Mit den behindertenpolitischen Forderungen 2009 haben die im DBR zusammen arbeitenden Verbände ihre Anforderungen an die Politik formuliert. Wir werden die Parteien an diesem Maßstab messen. Denn Behindertenpolitik verträgt keinen Stillstand.

Vielen Dank!

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