Menschenrechte – nicht mehr und nicht weniger! – Ein Veranstaltungsbericht

3.12.2011 - Am 2. Dezember 2011 lud der Deutsche Behindertenrat zur Veranstaltung "Menschenrechte – nicht mehr und nicht weniger!" anlässlich des Welttags von Menschen mit Behinderung nach Berlin ein. Rund 100 Menschen mit und ohne Behinderung folgten der Einladung ins Kleisthaus, um sich über die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland zu informieren und auszutauschen, darunter Vertreterinnen und Vertreter aus Verbänden, Ministerien, Abgeordnetenbüros und Behörden.

"Die Umsetzung der BRK war in diesem Jahr das Hauptthema des DBR. (...) Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass die im DBR zusammenarbeitenden Verbände nicht glücklich mit dem Nationalen Aktionsplan und dem ersten Staatenbericht der Bundesregierung sind. Beide Schriftstücke blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück und reichen selbst für einen ersten Aufschlag nicht aus", resümierte Martina Puschke, Koordinatorin des Arbeitsausschusses in ihrer Rede, mit der sie die Vorsitzende des Sprecherrats Barbara Vieweg wegen Krankheit vertritt. Beispielhaft führt sie die Themen Teilhabe an der Gesellschaft mit persönlicher Assistenz, Verhinderung von Gewalt und Schaffen von Barrierefreiheit an. Die Lösungsmöglichkeiten im Nationalen Aktionsplan zu diesen Beispielen sind mager und es ist fraglich, ob sie die Situation wirklich verbessern können.

Aus Sicht des DBR muss daher nun Folgendes passieren: 1. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung muss zügig mit konkreten Maßnahmen gefüllt und weiterentwickelt werden. 2. Alle Ministerien (Ressorts) müssen sich konsequent mit der Behindertenrechtskonvention auseinandersetzen und gemeinsam mit Menschen mit Behinderung Maßnahmen zur Umsetzung entwickeln. 3. Bundesweit muss ein konsequentes Disability- und Gender Mainstreaming eingeführt werden.

Zum Schluss regte Martina Puschke zum Nachdenken über Inklusion ein. Sie fragte: Ist es Inklusion, wenn es in einer gymnasialen Schulklasse eine Schülerin mit Behinderung gibt? Ist es Inklusion, wenn sich ein Freizeitangebot eines Wohnheims für Menschen mit Behinderung auch für nichtbehinderte Menschen öffnet? Ist es Inklusion, wenn Werkstätten für behinderte Menschen das Ziel verfolgen, sich auch für Gruppen wie Langzeitarbeitslose zu öffnen? Sie stellt aus ihrer Sicht klar: "Solange wir in dem vorhandenen System der Sonderbehandlung denken, schaffen wir keine inklusive Gesellschaft. Wir müssen uns also von alten Mustern, die wir kennen, trennen und Neues zulassen."

In ihrer Anmoderation dankte Dr. Sigrid Arnade Hubert Hüppe dafür, dass der DBR "Asyl" im Kleisthaus erhalten hat, um die Welttagsveranstaltung durchführen zu können. Denn diese musste sehr kurzfristig organisiert werden, nachdem die für den 2. und 3. Dezember geplante Großveranstaltung "Menschen mit Behinderung im Bundestag" kurzfristig abgesagt wurde.

Als Hausherr im Kleisthaus begrüßte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung Hubert Hüppe alle Anwesend herzlich. Auch er bedauerte, dass die Veranstaltung im Bundestag – die er maßgeblich angeschoben habe und auf seine Idee zurückgehe – abgesagt werden musste. Er hoffe, dass diese im nächsten Jahr nachgeholt werden könne. Im Weiteren betonte Hubert Hüppe die Bedeutung der BRK für die Behindertenpolitik. Mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der BRK sei ein erster Schritt erreicht, der allerdings noch weiter konkretisiert werden muss. Herausforderungen sieht er insbesondere im Bereich der Inklusion. Als aktuelles positives Beispiel aus der Politik benannte er das Versorgungsstrukturgesetz, mit dem die ambulante Rehabilitation gestärkt werden soll. Zudem wurde erstmals die zahnärztliche Versorgung von Menschen mit Behinderung verbessert. Ebenfalls wegweisend sei die Klarstellung des Bundessozialgerichts, dass Werkstattleistungen künftig ohne Anbindung an eine Werkstatt für behinderte Menschen genutzt werden können. Dies sei ein wichtiger Schritt für eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben.

Hans-Joachim Fuchtel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales hob in seiner Rede hervor, dass es auch positive Aspekte bei der Umsetzung der BRK und im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung (NAP) gebe. Beispielhaft nannte er die neue Nutzung der Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn ohne Kilometer-Begrenzung, Aktivitäten von Organisationen wie des TÜV, die sich Barrierefreiheit auf die Agenda setzen und den Lob europäischer Staaten für den NAP. Zudem sei der NAP kein Evangelium, sondern ein lebender Impuls und alle, die Ideen zur Weiterentwicklung haben, sollen diese beitragen.

Der Bereich der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen sei zwar noch nicht zufriedenstellend, allerdings gebe es positive Entwicklungen bei den Integrationsfirmen, wobei besonders wichtig sei, dass der Weg zurück in die Werkstatt für behinderte Menschen möglich ist. Positive Erwartungen sind an die "Initiative Inklusion" geknüpft, für die 100 Mio. Euro zur Verfügung gestellt wurden, um "Menschen besser an die Hand nehmen" zu können.
Hans-Joachim Fuchtel betonte in seiner Rede, Deutschland sei ein wirtschaftsstarkes Land. Damit gehe eine Verpflichtung für Menschen mit Behinderung einher. Für ihn seien zudem christliche Werte wie Solidarität und Nächstenliebe wichtig.
Abschließend erwähnte er die hohen Ausgaben in Deutschland für Rehabilitation und Gesundheit mit 44 Mrd. Euro und die neue Kampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales "Behindern ist heilbar". Diese will Aufmerksamkeit zum einen mit dem provokanten Titel zum anderen mit provokanten Bildern erreichen. Die Rückmeldungen zeigen, dass diese Kampagne sehr gut ankommt. In diesem Sinne soll die Arbeit fortgeführt werden.

Die anschließende Podiumsrunde stand unter dem Motto: "Nachgefragt: Welche behindertenpolitischen Schwerpunkte werden in den Parteien in Vorbereitung auf die Bundestagswahl 2013 gesetzt? Was empfehlen die behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen?" Auf dem Podium nahmen Platz: Markus Kurth (Bündnis 90/Die Grünen), Maria Michalk (CDU/CSU), Gabriele Molitor (FDP) und Dr. Ilja Seifert (Die Linke). Silvia Schmidt (SPD) musste einen anderen Termin in ihrem Wahlkreis wahrnehmen und fehlte daher.

Es fand eine rege Diskussion unter Hinzuziehung von Fragen aus dem Publikum statt:
Markus Kurth Kurth berichtete vom letzten Parteitag, auf dem erstmals Gebärdensprachdolmetscherinnen anwesend waren und auf dem das Thema Inklusion debattiert wurde. Das Gesetz zur Sozialen Teilhabe sei ein zentrales Anliegen. Zur Inklusion innerhalb der Partei erläuterte Markus Kurth, dass Bündnis 90/Die Grünen aus der Selbsthilfe mit entstanden sei und deshalb inzwischen auf allen Ebenen Wahlprogramm in Leichter Sprache erstellt werden, zunehmend Gebärdensprachdolmetschung anwesend ist, die Herausforderung jedoch in dem Finden einer gute Gesprächsebene mit psychisch kranken Menschen bestehen. Im Bereich der Rehabilitation befürchtet er ein Absenken von Standards; dieses Thema wird 2013 auf die Agenda genommen. Das Thema Arbeit müsse sektionsübergreifend angegangen werden. Ein Hauptanliegen sei dabei, die Sozialhilfeträger ins Boot zu holen. Zum Thema Denkmalschutz forderte Markus Kurth, dass Barrierefreiheit fester Bestandteil des Architekturstudiums werden müsse. Es müsste zudem geprüft werden, inwieweit es nachahmenswerte Meilensteine im Bereich Denkmalschutz und Barrierefreiheit gebe. Sowohl Markus Kurth als auch Dr. Ilja Seifert fordern die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses. Hierin seien sich alle behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen einig. Markus Kurth ergänzte, dass auch die PsychKGs auf den Prüfstand gehören, um Menschenrechtsverletzungen zu begegnen.

Aus Sicht von Maria Michalk muss das Wahlrecht dahingehend reformiert werden, dass auch Menschen mit Betreuung wählen dürfen. Zur besseren Finanzierung von Selbsthilfeorganisationen führte sie den wichtigen Faktor der Ehrenamtlichkeit an. Um eine Infrastruktur in den Organisationen zu erhalten weist sie auf Möglichkeiten der Anschubfinanzierung, Übernahme von Sachkosten und Beschäftigungsprogramme hin. Leider könnten jedoch nicht alle Wünsche erfüllt werden. Hinsichtlich der Verbindung von Denkmalschutz und Barrierefreiheit hat sie sich bereits intensiv mit den Ländern beschäftigt und Anregungen zur Verbesserung gegeben. Zum Thema Inklusion in den Parteien fordert Maria Michalk eine Abbildung aller gesellschaftlichen Gruppen bei der Delegiertenaufstellung der CDU/CSU. Auf Nachfrage zum Thema Gesetz zur sozialen Teilhabe berichtete sie, der Gesetzentwurf sei innerhalb der CDU/CSU in der Diskussion.

Gabriele Molitor berichtete, dass zahlreiche Projekte in der Bearbeitung seien, darunter u.a. die Evaluation des Betreuungsrechts in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe und die Fortführung des persönlichen Budgets. Im GKV-Strukturgesetz wurde soeben erreicht, dass die zahnärztliche Versorgung von Menschen mit Behinderung sichergestellt ist. Bei den Ressorts der Ministerien will sie sich dafür einsetzen, dass sie sich der BRK annehmen. Es bedürfe einer grundlegend besseren Achtsamkeit, die nicht mit Geld verbunden sein muss. Zum Thema Finanzierung von Selbsthilfeorganisationen ergänzte Gabriele Molitor ihre Kollegin Michalk dahingehend, dass Stiftungen zur Unterstützung von Vereinsarbeiten herangezogen werden können. Im Bereich Denkmalschutz und Barrierefreiheit plädierte sie für pragmatische Lösungen. Innerhalb der Partei werde Inklusion gut gelöst, indem sie als behindertenpolitische Sprecherin zu verschiedenen Arbeitsbereichen jeweils zugezogen wird. Das Thema Wahlen für Menschen mit Behinderung sei eine wichtige Frage, die sich im Prozess befinde.

Dr. Ilja Seifert hob zunächst vier Punkte hervor: Das Diskriminierungsverbot müsse durchgesetzt werden und bei Nichtachtung unter Strafe gestellt werden. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung müsse durchgesetzt werden. Zum Schaffen von Barrierefreiheit bedürfe es flankierender Konjunkturprogramme. Um die Beteiligung von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten müsse die Selbsthilfeförderung genutzt werden. Dr. Ilja Seifert erläutert für die Linken, dass gerade erst viele Forderungen der BAG Selbstbestimmte Behindertenpolitik von der Partei angenommen wurden. Auch der Fraktionsvorsitzende Dr. Gysi hätte erst gestern betont, wie viele Menschen mit Behinderung inzwischen zu sehen sind. Hinsichtlich des Bereichs Denkmalschutz und Barrierefreiheit würden bei der Ablehnung von Barrierefreiheit im Denkmalschutz Argumente vorgeschoben. Dahinter stehe ein bestimmtes Menschenbild. Zum Gesetzentwurf zur sozialen Teilhabe betonte Dr. Ilja Seifert den ersten Antrag der Linken zum Gesetz, der nun in die Ausschüsse gehe. Er ergänzte abschließend, das Betreuungsrecht sei nicht mit der BRK vereinbar. Wie sein Kollege Kurth forderte er zudem die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses von Menschen mit Behinderung.

Übergabe des Staffelstabs von Weibernetz zum Sozialverband VdK

In der anschließenden traditionellen Staffelstabübergabe wünschte Martina Puschke vom Weibernetz (in Vertretung von Barbara Vieweg) der künftigen Vorsitzenden des Sprecherrats Ulrike Mascher vom VdK ein erfolgreiches Jahr, um die Vorhaben des DBR zu bündeln und schlagkräftig zu vertreten.

In ihrem Ausblick für das Jahr 2012 stellte Ulrike Mascher das Thema Erwerbsarbeit und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung als Schwerpunktthema für das folgende Jahr vor. Es sei eine Spaltung des Arbeitsmarktes zu sehen, weil Menschen mit Behinderung nicht vom Aufschwung profitieren. Im Gegenteil drohe mit der neuen Instrumentenreform eine Verschlechterung; der Hartz IV Anstieg sei besonders problematisch und die Bereiche Beratung, Betreuung und Vermittlung blieben schwierig. Bei der anstehenden Rentenreform müsse der sogenannte "Rehadeckel" der Rehaleistungen vor der Rente begrenzt, wegfallen oder zumindest angehoben werden. Weiterhin stehen die Themen Pflege, die Reform der Eingliederungshilfe und das Schaffen von Barrierefreiheit auf der Agenda.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Sigrid Arnade
von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V.

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