Agenda 2010 höhlt Grundsätze des SGB IX aus

250 Teilnehmer kamen zur DBR-Konferenz "Teilhabe hat Zukunft" am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen in Berlin


Blick in den Berliner Bärensaal
Rund 250 Teilnehmer kamen am 3. Dezember zur DBR-Konferenz "Teilhabe hat Zukunft!" in den Berliner Bärensaal.
"Die Behindertenverbände sehen die Agenda 2010 sehr kritisch. Während in der letzten Legislaturperiode des Bundestags der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeläutet wurde, befürchtet der Deutsche Behindertenrat, dass die Grundsätze des Sozialgesetzbuches IX ausgehöhlt werden", sagte Walter Hirrlinger, Vorsitzender des DBR-Sprecherrats. Vor den 250 Teilnehmern der Konferenz "Teilhabe hat Zukunft!" am 3. Dezember in Berlin, forderte er ein eigenes Leistungsgesetz.

Die "Hartz-IV-Reform" belaste vor allem Arbeitslose, die wegen Krankheit, Schwerbehinderung und Alter nur schwer vermittelbar seien. "Die Einführung des Arbeitslosengeldes II, kann einzelne Betroffene an den Rand ihrer Existenz drängen", warnte der DBR-Vorsitzende.

Das Problem sei, dass die Grundsicherung für Arbeitslose und das SGB IX nicht aufeinander abgestimmt wurden. "Jetzt rächt sich, dass die Behindertenverbände an der Gesetzgebung kaum beteiligt wurden."
Hart getroffen von den Kürzungen seien auch Sozialhilfeempfänger in Altenheimen. Die Hartz-IV-Gesetze und die Änderungen im Sozialhilferecht legten fest, dass der so genannte Zusatzbarbetrag gestrichen werde. Hirrlinger: "Statt 133 Euro bekommen Bewohner künftig 89,70 Euro pro Monat. Das betrifft alle, die ab dem 1. Januar 2005 in ein Wohnheim ziehen. Von dieser Summe müssen neben Hygieneartikeln oder Friseurbesuch auch die Praxisgebühr und vor allem die Kosten für nicht-verschreibungspflichtige Medikamente bezahlt werden."


Redebeitrag von Walter Hirrlinger
DBR-Vorsitzender Walter Hirrlinger, Sozialverband VdK Deutschland
Dazu kämen die Belastungen aus dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz. Junge und gesunde Menschen erhielten zwar Beitragsnachlässe, weil sie derzeit keine Behandlung bräuchten. Aber chronisch kranke, behinderte und ältere Menschen sollten die Zeche über schärfere Zuzahlungen und mehr Selbstbeteiligung zahlen.

"Wenn wir den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik fortsetzen wollen, müssen wir das SGB IX zu einem eigenen Leistungsgesetz weiterentwickeln. Die Eingliederungshilfe muss aus dem Sozialhilferecht ausgegliedert und in ein Leistungsgesetz umgesetzt werden", forderte der DBR-Vorsitzende. Die Finanzierung eines solchen Gesetzes solle zu je einem Drittel von Bund, Ländern und Gemeinden erfolgen.

Franz Knieps, Abteilungsleiter im Bereich Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), sagte, die Agenda 2010 wirke Teilhabe nicht entgegen, sondern sichere sie dauerhaft und sorge dafür, dass jeder auch künftig gegen existentielle Lebensrisiken, wie Krankheit, Pflege, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Altersversorgung abgesichert sei. "Unser Sozialstaat muss zu einer Kraft werden, die Produktivität und Wachstum fördert. Das ist mit Einschnitten verbunden. Einschnitte, die auch wehtun. Hier müssen alle mithelfen", forderte Knieps.

Die Bundesregierung habe mit der Reform dafür gesorgt, dass das Gesundheitssystem bezahlbar bleibe. Vereinfachte Zuzahlungsverfahren schützen vor allem Heimbewohner vor finanzieller Überforderung. Auch für chronisch Kranke ergäben sich Verbesserungen und das Gesetz zur Förderung der Beschäftigung und Ausbildung behinderter Menschen komme dem Recht auf berufliche Teilhabe entgegen.


Hubert Hüppe, behindertenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, DBR-Vorsitzender Walter Hirrlinger und Franz Knieps vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) (von links)
"Der Zusatzbarbetrag für Heimbewohner ist im Sinne von Bund und Ländern gestrichen worden, weil damit dem Grundsatz ambulant vor stationär Rechnung getragen wird. Außerdem trägt die Allgemeinheit die Kosten für die Heimunterbringung", so Knieps.

Horst Frehe, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V., ging unter anderem auf die Schwierigkeiten des Wunsch- und Wahlrechts in Paragraf 9, Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX), ein. Damit werde den Leistungsberechtigten der Anspruch eingeräumt, die Leistungserbringer dazu zu verpflichten, auf individuelle berechtigte Wünsche einzugehen. Doch der aktuelle Paragraf 5 des Bundessozialhilfegesetzes sehe vor, dass ambulanten Hilfen Vorrang vor stationärer Pflege geleistet werde. Tatsächlich lebten aber 73 Prozent der Bezieher von Eingliederungshilfeleistungen in Pflegeeinrichtungen.

"Die Frage der Zumutbarkeit einer stationären Unterbringung und die Frage der Verhältnismäßigkeit der Kosten einer ambulanten Versorgung hebeln hier konkret dieses Wunsch- und Wahlrecht aus. Das wird sich mit dem In-Kraft-Treten des SGB XII auch nicht wesentlich ändern", meinte Frehe.

Das neue trägerübergreifende Persönliche Budget biete die Chance, unterschiedliche Leistungen aus einer Hand Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen. Frehe: "Würde man auf die Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Leistungen der Eingliederungshilfe und Pflege verzichten, dann ließen sich die Leistungen viel leichter zusammenführen. Außerdem würden dann erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen nicht mehr davon abgehalten werden, in den Beruf zu gehen."

Redebeitrag von Horst Frehe
Horst Frehe, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V.
Hinsichtlich der gemeinsamen Servicestellen kritisierte der Sozialrichter, dass in den letzen 18 Monaten nur eine Beratung auf eine Servicestelle kam, was sicher nicht an der mangelnden Bekanntheit liegen könne. "Wenn behinderte Menschen lediglich zu dem anderen Rehabilitationsträger weiter geschickt werden, weil vor Ort keine Beratungskompetenz vorhanden ist, dann wenden sie sich gleich an den vermeintlich zuständigen Träger und meiden die Beratungsstelle. Nur wenn die Gemeinsamen Servicestellen tatsächlich ein gemeinsames Beratungsangebot anbieten und über Entscheidungskompetenzen verfügen, wird sich dies ändern", gab Frehe zu Bedenken.

Professor Friedrich Wilhelm Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover merkte an, dass früher deutlich mehr staatliche Steuermittel ins deutsche Gesundheitswesen geflossen seien. In den vergangenen Jahrzehnten sei die Gesetzliche Krankenversicherung zunehmend stärker belastet worden und damit einhergehend die Lohnkosten am Arbeitsmarkt gestiegen. "Steuerreformen zu Lasten des Staates und zugunsten von Unternehmen sowie Steuersenkungen bei den Besserverdienenden sollten angeblich den Inlandskonsum fördern und Arbeitsplätze schaffen. Diese Politik ist jedoch nicht aufgegangen", sagte Schwartz. "Ein sich selbst verarmender Staat kann nicht mehr gerecht und fürsorgend sein!"

Redebeitrag von Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz
Professor Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, Medizinische Hochschule Hannover
Die so genannte Bürgerversicherung sei aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt: "Das Modell einer gesamtstaatlichen Pflichtversicherung für alle schiebt per Saldo noch mehr Finanzierungsaufgaben im Gesundheitswesen den Sozialkassen zu und führt zum Abbau bisheriger staatlicher Transferzahlungen über die Beamtenbeihilfe und mindert zugleich den privaten Mittelzufluss zum Gesundheitswesen über die PKV. Das kann nicht sinnvoll sein", warnte der Professor. Auch das Kopfpauschalenmodell der Union sein nicht seriös.

Schwartz kritisierte auch das Fallpauschalen-System für Krankenhäuser: Ab 2005 gelten Festpreise für Patienten und deren Krankheit. Dieses System verschärfe den ökonomischen Wettbewerb zwischen den Hospitalen auf Kosten von qualifizierten Vollzeitarbeitsplätzen.

Klaus Lachwitz von der Bundesvereinigung Lebenshilfe wies auf das Defizit der neuen Grundsicherung für Arbeitslosen, das Arbeitslosengeld II (ALG II), hin. ALG II solle nur für erwerbsfähige Menschen gelten, die in den ersten Arbeitmarkt vermittelt werden sollten. Das könnten auch Menschen mit Behinderungen sein.


Redebeitrag von Klaus Lachwitz
Klaus Lachwitz, Bundesvereinigung Lebenshilfe
"Wenn ein junger Mensch mit geistiger Behinderung eine Lehrstelle bekommt, für die der Arbeitgeber die Zuschüsse erhält, dann ist der Mann natürlich froh. Doch was ist, wenn er später arbeitslos ist? Dann gelten für ihn die harten Bedingungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, nämlich jede Arbeit ist zumutbar", berichtete Lachwitz.

Die Betroffenen würden sich daher zu Recht fragen: Wäre es nicht besser, den Status eines Vollerwebsgeminderten anzustreben oder in einer Werkstatt unter zu kommen?

"Die Grundsicherung wird dazu führen, dass in Zukunft ein neues Kriterium Einzug halten wird. Die Unterscheidung zwischen erwerbsfähigen und erwebsgeminderten Hilfsbedürftigen. Die gesetzlichen Regelungen lassen nur ein entweder oder zu. Wir wissen aber, dass viele Menschen Fähigkeiten haben, die sich verändern und entwickeln", so Lachwitz.


Blick auf das Podium
Brigitte Faber vom Weibernetz, der behindertenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Hubert Hüppe, sowie der Bundesbehindertenbeauftragte, Karl Hermann Haack (SPD), Moderator Wolf Gunter Brügmann, Brigitte Pathe vom Sozialverband Deutschland und Hannelore Loskill von der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfen für Behinderte (von links).
An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen Brigitte Faber vom Weibernetz, der behindertenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Hubert Hüppe, sowie der Bundesbehindertenbeauftragte, Karl Hermann Haack (SPD), Brigitte Pathe vom Sozialverband Deutschland und Hannelore Loskill von der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH) teil. Sie diskutierten zusammen mit den Teilnehmern die aktuelle gesellschaftlichen Hürden für Menschen mit Behinderungen.

Der DBR-Vorsitzende Walter Hirrlinger dankte der Schwerbehindertenvertretung des Landes Berlin für deren tatkräftige Unterstützung bei der Organisation der Konferenz und die gute Zusammenarbeit.

Das Sekretariat des DBR wechselt turnusgemäß zum 3. Dezember 2004. Für die nächsten zwölf Monate wird Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH) die Arbeit des Aktionsbündnisses koordinieren. (Tanja Schäfer)

Redebeiträge zum Download

 Rede Walter Hirrlinger (27 KB)
Ansprache von Walter Hirrlinger: Die Agenda 2010 aus Sicht von chronisch kranken und behinderten Menschen

 Rede Franz Knieps (19 KB)
Redebeitrag von Franz Knieps - stellvertretend für Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung

 Rede Horst Frehe (39 KB)
Redebeitrag von Horst Frehe: Leistungen aus einer Hand statt bürokratisch-sektorierte Leistungserbringung

 Rede Prof. Dr. F.W. Schwartz (31 KB)
Redebeitrag von Herrn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz: Reformoptionen für ein solidarisches Gesundheitssystem

 Rede Klaus Lachwitz (86 KB)
Redebeitrag von Klaus Lachwitz: Hoffnung durch Hartz IV? Arbeitsmarktreform und Menschen mit Behinderungen


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