Rede von Karin Evers-Meyer zum Welttag der Menschen mit Behinderungen

anlässlich der Veranstaltung des DBR "Große Koalition - eine Chance für Menschen mit Behinderungen?"

3. Dezember 2005

Karin Evers-Meyer, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

-Es gilt das gesprochene Wort-


Sehr geehrte Frau Loskill,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr heute hier zu sein und über die Gelegenheit, mich den Verbänden im Aktionsbündnis des Deutschen Behindertenrates vorstellen zu können.


Karin Evers-Meyer während ihrer Rede am Rednerpult
Karin Evers-Meyer, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, bei ihrer Rede anlässlich der Veranstaltung des DBR "Große Koalition - eine Chance für Menschen mit Behinderungen?" am 3.12.2005
Der Arbeits- und Sozialminister, Franz Müntefering, hat mich gebeten, Ihnen allen seine ganz herzlichen Grüße auszurichten.
Sie wissen, dass er sich als Verhandlungsführer der Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen intensiv für die Belange behinderter Menschen eingesetzt hat und ich weiß sehr genau, dass vieles von dem, was jetzt im Koalitionsabkommen steht oder auch bewusst für die weitere Arbeit offen gehalten worden ist - ich nenne hier ausdrücklich das Antidiskriminierungsgesetz - seinem hohen Engagement und seiner Standfestigkeit zu verdanken ist.
Dies gilt auch für meinen Amtsvorgänger, Karl Hermann Haack, der sich auch in den letzten Monaten ganz unruhestandsmäßig unermüdlich für die Belange behinderter Menschen eingesetzt hat.
Ich danke Karl Hermann Haack ganz ausdrücklich für das gut bestellte Feld, das er mir überlassen hat; natürlich werde ich eigene Akzente setzen, aber ich kann Ihnen versichern, ich möchte an den Grundprinzipien festhalten, dass die Ausgestaltung der Lebenssituation behinderter Menschen sich an dem Grad einer möglichst umfassenden Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung behinderter Menschen misst und messen lässt.
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass durch Grundgesetzänderung, Sozialgesetzbuch IX und das Behindertengleichstellungsgesetz schon vieles erreicht worden ist, von dem wir alle noch vor wenigen Jahren nicht einmal zu träumen wagten. Der Alltag behinderter Menschen hat sich bereits positiv verändert und auf diesem Weg werden wir mit aller Kraft voranschreiten, denn wir alle wissen, es gibt die berechtigte Grundlage für Optimismus, keineswegs aber für Selbstzufriedenheit; denn in dem Moment, in welchem man im Arbeiten und Bohren nachlässt, wird man zurückgeworfen.

Ich bekenne mich auch zu einem anderen Prinzip, nämlich der umfassenden Einbeziehung behinderter Menschen in alle Bereiche der Gesetzgebung und ihrer Umsetzung. Ich bin sicher, davon wird es nie wieder ein Zurück geben, dass nämlich behinderte Menschen sich als die Experten in eigener Sache mit ihren unschätzbaren Erfahrungen effektiv einbringen.

Aber und das ist mein Appell: Sie müssen diese Möglichkeiten auch nutzen. Der Paradigmenwechsel bringt nicht nur neue Möglichkeiten mit sich, sondern für die Verbände behinderter Menschen auch eine andere Rolle mit neuen Pflichten sich einzubringen, Konkurrenzen untereinander hintanzustellen und Kompetenzen zu bündeln, um das Bestmögliche zu erreichen.
Unter dem Bestmöglichen verstehe ich Regelungen, die nicht nur auf dem Papier Gleichstellung und selbstbestimmte Teilhabe festschreiben, sondern auch tatsächlich im Alltag der behinderten Menschen positive Veränderungen bewirken. Wir erleben es gerade wieder im Zusammenhang mit Sozialgesetzbuch IX und Behindertengleichstellungsgesetz: Die Umsetzung stellt die eigentliche Kärrnerarbeit dar. In der Umsetzung offenbaren sich die Widerstände und es zeigt sich, wo man eventuell mit Freundlichkeit und Gesprächen allein nicht weiterkommt, sondern an die Wurzeln der Probleme gehen und auch bestehende Strukturen sehr kritisch dahingehend hinterfragen muss, ob sie überhaupt geeignet und die handelnden Personen willens sind, das, was im Gesetz steht, auch umzusetzen. Man muss nur den Bericht der Bundesregierung zur Situation der Teilhabe behinderter Menschen und den darauf aufbauenden Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages lesen, um die Bereiche zu erkennen, die für die Entwicklungs- und Teilhabechancen behinderter Menschen zwar von ganz großer Bedeutung sind, in denen es aber noch immer "suboptimal" läuft. Servicestellen, Frühförderung, Arbeitsmarkt... die Liste der Bereiche, wo es nicht an guten gesetzlichen Grundlagen fehlt, sondern die Ursache des Übels in der Umsetzung durch die Selbstverwaltung begründet liegt, ist aus meiner Sicht noch immer viel zu lang.

Meine Damen und Herren,
bevor ich zur Bewertung des Koalitionsvertrages und zur Vorstellung meines - wenn man es so nennen möchte - "100-Tage-Programmes" komme, möchte ich noch eine andere Frage beantworten, die mir in den vergangenen Tagen oft gestellt worden ist: Worin liegt eigentlich mein Bezug zur Behindertenpolitik?

Sie werden in den kommenden Jahren meine Partnerinnen und Partner sein. Gemeinsam haben wir große Aufgaben vor uns und ich finde, Sie haben ein Recht darauf, von mir auch etwas sehr Persönliches zu erfahren:
Ich bin durch mein eigenes Schicksal mit den Belangen behinderter Menschen in Berührung gekommen. Durch einen Fehler bei der Geburt ist eines meiner Zwillingskinder schwerbehindert zur Welt gekommen. Jeder, der etwas ähnliches erlebt hat, weiß, dass mit diesem Tag die Welt auf dem Kopf steht. Ich habe damals in den 70er Jahren sehr deutlich zu spüren bekommen, dass mit der Geburt eines behinderten Kindes ein Kampf beginnt, der viel Kraft kostet und eine Familie und ihr Umfeld an die Grenzen der Belastbarkeit führen kann. Gemeinsam mit meiner Familie bin ich den Weg durch die Instanzen gegangen. Das begann mit der barrierefreien Einrichtung unserer Wohnung, ging über Frühförderung, die Auseinandersetzung mit Versicherungen und medizinischen Diensten bis hin zum Kampf um schulische und berufliche Integration.

Mein Sohn ist vor vier Jahren im Alter von 25 bei einem furchtbaren Verkehrsunfall ums Leben gekommen. In diesen 25 Jahren sind meine Familie und ich sehr wesentlich geprägt worden. Ich meine, in dieser Zeit eine Sensibilität für das Thema "Menschen mit Behinderungen"
bekommen zu haben, die wohl nur jemand haben kann, der etwas Vergleichbares in der eigenen Familie erlebt hat.

Diese Prägung war auch ein entscheidender Auslöser für meinen Entschluss, mich politisch zu engagieren. Ich habe auf Gemeindeebene begonnen, ging dann in den Kreistag und wurde sehr bald zur Landrätin ernannt. Dieses Amt habe ich mit großer Freude neun Jahre lang ausgeübt.

Sie können sich vorstellen, dass es bei uns auf dem Lande so war, dass die Menschen auch die persönliche Geschichte ihrer Landrätin sehr wohl kannten, wenn ich auch nie öffentlich versucht habe, mein persönliches Schicksal politisch zu instrumentalisieren. Man wusste einfach, dass da eine Landrätin mit einem behinderten Sohn ist, die sich auch privat für die Belange behinderter Menschen einsetzt. Die Folge war natürlich, dass dieses Thema seit der Zeit als Landrätin bis heute immer wieder an mich herangetragen wird. Mir war dieses inoffizielle Amt als "Ansprechpartnerin in Sachen behinderte Menschen" sehr recht, hatte ich doch als Landrätin endlich die Möglichkeit, zumindest auf kommunaler Ebene etwas zu bewirken. Ich stand von Beginn an in engem Kontakt zu Behindertenverbänden, zu den Familien behinderter Menschen, zu Pflegeeinrichtungen und natürlich - und das ist für mich das Wichtigste - zu den Menschen mit Behinderungen selbst.

Die vier Jahre, die seit dem Tod meines Sohnes vergangen sind, habe ich gebraucht, um Abstand zu gewinnen, Abstand in dem Sinne, dass ich überhaupt wieder in der Lage bin, Politik in diesem Bereich mitzugestalten.
Ich bin sehr dankbar, dass ich jetzt in der Lage bin, auf Bundesebene an größeren Schrauben zu drehen als in meiner kommunalpolitischen Zeit.

Natürlich ist auch vieles ganz neu für mich, ich freue mich aber darauf, mich einzuarbeiten und kann Ihnen versichern, dass ich die neue Herausforderung mit offenem Herzen angehe und auch mit dem gehörigen Respekt vor dem Amt und den Aufgaben, die vor uns allen liegen. Dass Respekt auch vor den großen Schuhen, die Karl Hermann Haack mir hinterlassen hat, aber nicht zu Lähmung führen darf und wird, ist für mich ebenso selbstverständlich.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Die Frage heute und in den nächsten Jahren lautet: Große Koalition - Eine Chance für Menschen mit Behinderungen?

Sie setzen das Fragezeichen zu Recht, denn auch ich teile die Einschätzung, dass es darauf ankommt, was wir alle - damit meine ich Politik und Zivilgesellschaft - daraus machen.
Es ist richtig, dass natürlich in einer großen Koalition die Stimme des einzelnen Abgeordneten weniger Gewicht hat, das gilt auch für die Behindertenpolitiker innerhalb der Koalition. Andererseits bietet aber gerade die Große Koalition auch die große Chance mit ihrer breiten Mehrheit und den viel besseren Möglichkeiten, auch auf Länderebene strukturelle Veränderungen durchzusetzen.
Da jedem Neuanfang ein Zauber inne wohnt, möchte ich im Moment und bis zum Beweis des Gegenteils nur das Positive annehmen.

Ein bewährtes Instrument für die Koordinierung zwischen den Fraktionen und den Ministerien bot und bietet nach meiner Einschätzung die Koalitionsarbeitsgruppe Menschen mit Behinderungen. Diese möchte ich gern reaktivieren. Lieber Herr Hüppe, ich hoffe, Sie sind mit möglichst vielen Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion dabei. Ich finde, mit unserer Arbeit sollten wir gleich Anfang Januar starten.

Die Regelungen im Koalitionsvertrag stellen für mich eine gute Ausgangsbasis dar, konkrete Politik muss auf dieser Grundlage aber erst noch gestaltet werden und da gilt es genau hinzuschauen und zu gewährleisten, dass die Belange behinderter Menschen berücksichtigt werden.

Ich begrüße ausdrücklich das Bekenntnis zu einem System zukunftsfester, verlässlicher Eingliederungshilfe, die angekündigte Stärkung des Prinzips ambulant vor stationär, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, die Leistungserbringung aus einer Hand und die Einführung des Persönlichen Budgets, verbunden mit der Forderung, für die Bereiche Prävention, Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation ein Gesamtkonzept zu erarbeiten, das für die Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger, behinderter und älterer Menschen das Ziel vorgibt, Behinderungen, chronischen Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit entgegen zu wirken.
Ein ganz entscheidender Satz im Vertrag findet sich bei dem Kapitel zur anstehenden Reform der Pflegeversicherung: Nämlich, dass "Pflegebedürftigkeit nicht dazu führen darf, dass erforderliche Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und Teilhabe nicht erbracht werden." Eine konsequente Umsetzung dieser Regelung durch die Kostenträger würde schon eine Reihe der Fälle, die ich tagtäglich auf den Tisch bekomme, obsolet machen.

Ebenfalls sehr gut und ausbaufähig finde ich das ausdrückliche Bekenntnis zur Stärkung der Patientenrechte und zur Erhöhung der Transparenz. Dies und die positiven Erfahrungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Behindertenverbände im Gemeinsamen Bundesausschuss beweist, die Experten in eigener Sache sind weiterhin intensiv gefragt.

Ich komme nun noch zu einem anderen Thema, das mir immens wichtig ist: Die Vorbeugung und Beseitigung der zivilrechtlichen Diskriminierung behinderter Menschen, wie sie in skandalöser Weise u. a. durch Reiseveranstalter, Gastronomiebetriebe und in großem Umfang von privaten Versicherungen praktiziert wird.
SPD und CDU/CSU konnten sich leider nicht auf ein Bekenntnis für ein übergreifendes Antidiskriminierungsgesetz einigen. Also hat man die Frage zunächst offen gelassen. Ich habe dazu die Position, dass ich nicht darüber streite, wie man das Kind nennt, wohl aber werde ich dafür streiten, dass wir die Probleme angehen und bei der Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien deutlich machen, dass wir die Diskriminierung insbesondere bei Massengeschäften - gegen welche Gruppe auch immer - offensiv bekämpfen.

Meine Damen und Herren, in Deutschland sind 6,7 Millionen Menschen schwerbehindert, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 8 Prozent. Gemeinsam mit Familienangehörigen und Freunden ist dies auch eine entscheidende Wählergröße. Diese Lobby gilt es stärker als bisher zu organisieren und ihr eine Stimme zu verleihen, die ein stärkeres Gewicht als bisher in der politischen Auseinandersetzung hat. Denn die Gestaltung der Lebenssituation behinderter Menschen ist kein Minderheitenthema, sondern entscheidend für die bürgerrechtliche Frage: Wie hält es unsere Gesellschaft mit dem Angebot ernstgemeinter und echter Teilhabe?
Ich möchte den Koalitionsfrieden zwar nicht gefährden, sage aber hier ganz offen, ich möchte keine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, Dr. Merkel, mehr hören, in der behinderte Menschen nicht genannt werden und ich möchte auch nicht, dass diese zukünftig unter der Kategorie der vermeintlich "Schwachen" aufgezählt werden.

In den vergangen Tagen bin ich oft nach meinen ersten Projekten und Plänen gefragt worden. Ich bekenne auch hier ganz offen: Ich hatte bei meiner Berufung noch keine vorgefertigten Rezepte in der Tasche. Das kann aber auch von Vorteil sein, denn dadurch bin ich in der Lage das zu tun, was ich mir für die ersten Wochen im Amt vorgenommen habe. Ich möchte intensive Gespräche mit den behinderten Menschen und ihren Verbänden führen und mehr darüber erfahren, welche Probleme im Alltag besonders drücken und welche Ideen Sie mir mit auf den Weg geben möchten. Ich plane im Januar einen Neujahrsempfang - auch zum ersten Kennenlernen - künftiger Mitstreiterinnen und Mitstreiter; danach werde ich intensiv mit den Verbänden ins Gespräch kommen. Aus dem, was ich dann gelernt habe, möchte ich meine Ziele und Strategien entwickeln. Das Kleisthaus soll das bleiben, was es auch bei Karl Hermann Haack war: ein Ort, an dem die kulturelle Begegnung im Sinne von "Kultur für Alle" gelebt wird und eine Ideenschmiede, in der Neues, Freches und manchmal Unmögliches gedacht werden kann und davon mehr verwirklicht wird, als manch einer für möglich gehalten hat.

Doch zunächst meine herzliche Bitte: Geben Sie mir etwas Zeit und eine Chance. Und zum Schluss noch ein Wunsch: Ich brauche Ihrer aller Hilfe und Vertrauen und freue mich schon jetzt sehr auf unsere Zusammenarbeit.

Herzlichen Dank!

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