Behindertenpolitische Forderungen des Deutschen Behindertenrates 2008

3.12.2007 -
Themenfoto: Ein Mann im Rollstuhl schüttelt einem anderen Mann die Hand
Die Behindertenpolitik der Bundesrepublik Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Maßstab für deren Bewältigung muss die UN Konvention "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung" sein.

Deutschland gehört zu den Erstunterzeichnern dieser Konvention und hat auch an deren Erarbeitung auf Regierungs- und Nichtregierungsebene engagiert mitgewirkt. Trotz des seit Ende der 90er Jahre eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik zeigt die UN Konvention, dass bisher nur erste Ansätze verwirklicht sind.

Barrierefreiheit

"Um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens geeignete Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umgebung, Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien sowie zu anderen Einrichtungen und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten zur Verfügung gestellt werden, zu gewährleisten."

Das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG) besteht seit fünf Jahren. Das Gesetz konnte kaum Wirksamkeit entfalten, so unter anderem weil Unternehmen nicht zum Abschluss von Zielvereinbarungen verpflichtet werden können oder weil verbindliche Fristen zur Umsetzung fehlen. Die Föderalismusreform hat nunmehr einige Gesetze, wie zum Beispiel das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und das Gaststättengesetz ausgehebelt. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, der Bund darf seine Kompetenzen für ein Hinwirken auf umfassende Barrierefreiheit nicht so ohne weiteres aus der Hand geben.

Der DBR fordert eine Weiterentwicklung des BGG. So muss Bahnunternehmen eine verbindliche Frist zur Vorlage eines Bahnprogramms gesetzt und im Regionalisierungsgesetz Barrierefreiheit als verpflichtendes Kriterium verankert werden. Da auch behinderte Menschen zunehmend grenzüberschreitend mobil sind und Güter und Dienstleistungen in Anspruch nehmen, bedarf es ergänzend eines Gleichstellungsgesetzes auf europäischer Ebene.

Frauen mit Behinderungen

"Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, Förderung und Ermächtigung der Frauen, damit gewährleistet wird, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können."
Behinderte Frauen sind sowohl gegenüber behinderten Männern als auch gegenüber nicht behinderten Frauen benachteiligt. Sie bilden das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt, sind besonders häufig von sexualisierter Gewalt betroffen und erhalten als Mütter kaum Unterstützungen.

Der DBR fordert, dass die Situation von behinderten Frauen bei allen behinderten- und frauenpolitischen Maßnahmen als Querschnittsaufgabe berücksichtigt wird. So sind unter anderem wirksame Schutzmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt zu treffen, wie ein Rechtsanspruch auf gleichgeschlechtliche Pflegekräfte. Außerdem müssen behinderte Mütter durch ein Recht auf Elternassistenz unterstützt werden.

Selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gemeinschaft

"Öffentliche kommunale Dienstleistungen und Einrichtungen müssen Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigter Basis zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen."
Menschen mit Behinderungen wollen ihre individuelle Lebens- und Wohnsituation selbst bestimmen. In der Behindertenhilfe und Pflege fehlt es immer noch an gut ausgestatteten ambulanten Hilfen, so dass behinderte Menschen bzw. ihre Angehörigen auf stationäre Angebote ausweichen müssen. Damit wird Menschen mit Unterstützungsbedarf das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe vorenthalten.

Der DBR fordert eine verlässlichere Ausstattung ambulanter Dienstleistungen und Persönlicher Assistenz sowie die Investition in ambulante Unterstützungsstrukturen. Dazu bedarf es eines Gesamtkonzeptes der Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger, alter und behinderter Menschen, das im Koalitionsvertrag zwar angekündigt wird, aber nicht einmal ansatzweise zu erkennen ist. In der Pflegeversicherung müssen die Hemmnisse zur Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets beseitigt und die ambulanten Sachleistungen auf die Höhe der stationären Sätze angehoben werden. Durch die Föderalisierung des Heimrechts dürfen behinderten Menschen keine Nachteile entstehen.

Bildung

"Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung an. Um die Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierungen und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu erreichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen sowie lebenslanges Lernen."
Schulische Inklusion ist in Deutschland immer noch ein Fremdwort, bis dahin, dass in der offiziellen deutschen Fassung Inclusion mit Integration übersetzt werden soll. Förder- und Sonderschulen sichern oft nicht die gleichen Startbedingungen für behinderte Jungen und Mädchen auf dem Weg ins Leben. Gleichzeitig bedarf ein inklusives Schulsystem aber auch einer hohen Qualität an sonderpädagogischer Förderung und Schulassistenz und der Bereitstellung entsprechender Ressourcen.

Der DBR fordert die Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechtes bei der Auswahl geeigneter Schulformen. Die sonderpädagogische Förderung an allgemeinen Schulen muss auf hohem bundesweit vergleichbarem Niveau gewährleistet sein. Auf diese Weise muss angestrebt werden, die Bildung behinderter Schülerinnen und Schüler in allgemeinen Schulen von der Ausnahme zur Regel werden zu lassen.

Gesundheit

"Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderung auf das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung an."
Deutschland erhöht mit jeder neuen Gesundheitsreform die Eigenbeteiligung der Patientinnen und Patienten an den Gesundheitskosten. Chronisch kranke Männer und Frauen müssen heute ungleich mehr Geld aufwenden, um eine angemessene gesundheitliche Versorgung zu erhalten. Insbesondere im Bereich der Hilfsmittelversorgung ist eine gleichberechtigte Teilhabe am medizinisch-technischen Fortschritt nicht mehr gewährleistet.

Der DBR fordert ein solidarisches Gesundheitssystem, das die Bedürfnisse behinderter und chronisch kranker Menschen ausreichend berücksichtigt und gleichberechtigten Zugang zu allen medizinischen Leistungen gewährt. Die Beteiligungsrechte chronisch kranker und behinderter Menschen sind auszuweiten, etwa beim Abschluss von Strukturverträgen (zum Beispiel Integrierte Versorgung oder DMP), der finanziellen Bewertung ärztlicher Leistungen oder der Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs.

Arbeit und Beschäftigung

"Die Vertragsstaaten erkennen das gleichberechtigte Recht auf Arbeit von Menschen mit Behinderungen an; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt und angenommen wurde."
Die Arbeitslosigkeit unter behinderten Menschen, besonders bei behinderten Frauen, ist immer noch viel zu hoch. Eingliederungszuschüsse, die die Beschäftigung behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fördern sollen, werden insbesondere im Bereich des SGB II viel zu zögerlich gewährt. Die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen verdienen nur ein Taschengeld und nur wenige schaffen den Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Der DBR fordert, dass die Instrumente der Arbeitsförderung stärker als bisher eingesetzt werden, da sie behinderten Frauen und Männern mit ganz unterschiedlichen Unterstützungsbedarf einen besseren Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnen, dazu zählen unter anderem Eingliederungszuschüsse und Unterstützte Beschäftigung.

Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz

"Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien an."

Viele Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sind nach wie vor abhängig vom Einkommen und Vermögen. Bedarfsdeckende Pflege und Persönliche Assistenz sind oft nur möglich, wenn auf eigenes Einkommen und Vermögen verzichtet wird beziehungsweise dies im erheblichen Umfang dafür verbraucht wird.

Der DBR fordert eine bedarfsdeckende und einkommens- und vermögensunabhängige Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die am individuellen Unterstützungsbedarf orientiert ist. Die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf ein Persönliches Budget erfordert eine viel größere Bereitschaft der Rehabilitationsträger, dieses Instrument umzusetzen, als bisher erkennbar.

Berlin, den 3. Dezember 2007

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