Gemeinsame Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen verabschiedet

Die mit dem Bundesteilhabegesetz eingeleitete Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ist ein wichtiger und fortschreitender Prozess - Einen Rückschritt darf es nicht geben

Selbstbestimmung und Teilhabe sicherstellen!
Gemeinsame Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen

Der Deutsche Behindertenrat, die Liga Selbstvertretung, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Fachverbände für Menschen mit Behinderung stellen gemeinsam fest, dass die mit dem Bundesteilhabegesetz eingeleitete Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ein wichtiger und fortschreitender Prozess ist. Einen Rückschritt darf es nicht geben.

Der UN-Auftrag muss umgesetzt werden.
Das obengenannte Verbändebündnis appelliert an die Gesetzgeber von Bund und Ländern sowie die Träger der Eingliederungshilfe, ihrem Auftrag aus der UN-BRK, Segregation möglichst zu beenden und Inklusion in Wohnen, Arbeit und Bildung zu befördern, umzusetzen und hierfür die erforderlichen Schritte weiterzugehen.

1. Das Ziel, Leistungen der Eingliederungshilfe bedarfsgerecht, individuell und personenzentriert zu erbringen, muss weiterverfolgt werden.
Leistungsberechtigten muss eine individuelle Lebensführung ermöglicht werden, die der Würde des Menschen entspricht. Ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft muss gefördert werden. Die Eingliederungshilfeleistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können (§ 90 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX).
Die Möglichkeit, Leistungen zu pauschalieren, ist nach § 116 SGB IX für wenige Leistungen zulässig. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Prüfung weiterer Pauschalierungen lehnen wir ab. Schutz und Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen müssen zentrales Ziel der Weiterentwicklung des SGB IX sein und bleiben.

2. Den individuell festgestellten Bedarfen müssen passgenaue Angebote gegenüberstehen.
Menschen mit Behinderungen haben gegen die Träger der Eingliederungshilfe einen Anspruch auf Bedarfsermittlung und Leistungserbringung. An diesem Prinzip ist festzuhalten. In der Begründung der Leistungsbescheide hat der Leistungsträger nach § 35 SGB X zu erläutern, "welche wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben."

Im Rahmen ihres Sicherstellungsauftrags nach § 95 SGB IX haben die "Träger der Eingliederungshilfe … eine personenzentrierte Leistung für Leistungsberechtigte unabhängig vom Ort der Leistungserbringung sicherzustellen". Hierfür muss der Leistungsträger entsprechende Vereinbarungen mit den Leistungserbringern abschließen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Leistungsberechtigten entsprechend ihrer Ansprüche auch passende bedarfsgerechte Angebote vorfinden.
Überdies müssen Leistungsberechtigte besser informiert werden, welche Angebote zur Deckung ihres Bedarfs zur Verfügung stehen, damit sie ihre Wahlfreiheit auch ausüben können. Hierfür Sorge zu tragen, ist ebenfalls Auftrag des Leistungsträgers nach § 106 Abs. 2 und 3 SGB IX.
Der Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget muss sichergestellt und darf nicht geschmälert oder pauschaliert werden.

3. Die selbstbestimmte Entscheidung über den eigenen Wohnort darf nicht eingeschränkt werden.
Nach Art. 19 der UN-BRK haben Menschen mit Behinderungen das Recht zu entscheiden, wo und wie sie leben möchten – ebenso wie Menschen ohne Behinderungen. Sie haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft.
Äußern Menschen mit Behinderungen den Wunsch, außerhalb einer besonderen Wohnform zu leben, wird ihnen dies von den Trägern der Eingliederungshilfe teilweise mit Hinweis auf den vermeintlich in § 104 Abs. 2 und 3 SGB IX geregelten Mehrkostenvorbehalt verweigert. Der Bundesgesetzgeber wird daher aufgefordert, in § 104 SGB IX klarzustellen, dass nicht nur das Wohnen in der eigenen Wohnung, sondern auch in einer selbstbestimmten Wohngemeinschaft vom Mehrkostenvorbehalt ausgenommen sind. Eine Abkehr von der Ausnahme vom Mehrkostenvorbehalt vom Wohnen wäre ein gravierender Verstoß gegen die UN-BRK.
Im Bürgergeld und in der Grundsicherung / beim Wohngeld (SGB II und XII) sind inklusionsspezifische Faktoren (z.B. barrierefreier bzw. rollstuhlgerechter Wohnraum) zu berücksichtigen.

4. Der Gleichrang von Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe muss erhalten bleiben.
Pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe. Der in § 13 Abs. 3 S. 3, 1. HS SGB XI festgeschriebene Gleichrang dieser beiden Leistungen ist unbedingt beizubehalten. Beide Leistungen dienen unterschiedlichen Zielsetzungen und können daher nicht in ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis zueinander gesetzt werden.

5. Bürokratieabbau und Verfahrensvereinfachung sind voranzutreiben.
Die Verfahren müssen einfacher werden.

a) Der Gemeinsame Grundantrag muss zeitnah, digital und verbindlich eingeführt werden.
Der bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation entwickelte und bereits erprobte Gemeinsame Grundantrag aller Rehabilitationsträger sollte zeitnah im Gesetz verankert werden und für alle Rehabilitationsträger verbindlich werden.
Der Grundantrag darf nicht ergänzend zu den Anträgen der anderen Rehabilitationsträger sein, sondern muss deren Anträge ersetzen. So kann erreicht werden, das Leistungsberechtigte nur noch einen Antrag ausfüllen müssen, um Leistungen von verschiedenen Rehabilitationsträgern zu erhalten. Wichtig ist, dass alle Rehabilitationsträger, auch die Träger der Eingliederungshilfe, mit dem Grundantrag arbeiten und damit auch eine gemeinsame digitale Infrastruktur erhalten.
b) Die Bedarfsfeststellung muss einheitlich(er) gestaltet werden.
Die Bedarfsermittlung für Teilhabeleistungen muss insgesamt vereinfacht und vereinheitlicht werden. Die bei den Trägern der Eingliederungshilfe entwickelten Bedarfsermittlungsinstrumente und ihre Vorgehensweisen bei der Bedarfsermittlung und /-feststellung führen aktuell zu einer sehr unterschiedlichen Umsetzung der Eingliederungshilfe und in vielen Fällen zu einer überbordenden Bürokratie. Das führt dazu, dass die Realisierung der Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen je nach Wohnort unterschiedlich gut gelingt. Bundesweit einheitliche Lebensbedingungen sind nicht gewährleistet. Es ist unbedingt dafür zu sorgen, die Bedarfsermittlung zu vereinfachen und die Bedarfsermittlungsinstrumente so anzugleichen, dass eine bundesweit einheitliche Bedarfsermittlung als Grundlage für die Bedarfsfeststellung und Leistungserbringung gewährleistet wird. Insbesondere aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen erscheint es dafür notwendig, dass die Bedarfe bundesweit mit einem einheitlichen Instrument ermittelt werden.
c) Eingliederungshilfebedarfe sind in individuell sinnvollen Intervallen zu überprüfen.
Die Vorgabe zur Überprüfung und Fortschreibung des Gesamtplans nach § 121 Abs. 2 SGB IX ist so anzupassen, dass mit Zustimmung des Leistungsberechtigten vereinbart werden kann, den Gesamtplan auch mit einem größeren zeitlichen Abstand zu überprüfen und fortzuschreiben. Auf Wunsch des Leistungsberechtigten muss eine Überprüfung jederzeit durchgeführt werden können.
d) Die Genehmigungsfiktion muss auch für die Eingliederungshilfe gelten.
Die Verfahren bis zur Erteilung der Bescheide sind oft sehr lang. Der Bundesgesetzgeber ist aufgefordert, die in § 18 Abs. 7 SGB IX beschriebene Ausnahme für die Träger der Eingliederungshilfe zu streichen und damit eine Erstattung der Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen auch in der Eingliederungshilfe zu ermöglichen.
Auch wenn in der Praxis bei unbestimmten und noch zu ermittelnden Bedarfen die Genehmigungsfiktion nicht immer greifen wird, so würde sie zumindest bei beantragten Einzelleistungen (z.B. Hilfsmittel, bestimmte Assistenzleistungen etc.) Anwendung finden können.
e) Leistungsbescheide dürfen nicht regelhaft befristet werden.
Bescheide zur Bewilligung von Leistungen werden entgegen höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BSG 28.1.2021 – Az: B 8 SO 9/19 R) zum Teil noch immer befristet – trotz gleichbleibender Bedarfe. Die dadurch erforderliche Neubeantragung und -bescheidung bedeutet sowohl für Leistungsberechtigte als auch Leistungsträger und Leistungserbringer einen erheblichen Verwaltungsaufwand, der vermeidbar ist.
f) Gesamtplanverfahren müssen regelhaft durchgeführt werden – die Nichtdurchführung ist zu sanktionieren.
Gesamtplanverfahren und Bedarfsermittlung sind einfach, aber regelhaft flächendeckend durchzuführen. Der Gesetzgeber wird aufgefordert, acht Jahre nach Inkrafttreten der entsprechenden Regelung im SGB IX die Nichtdurchführung des Gesamtplanverfahrens zu sanktionieren. Vergleichbar wie in der Sozialen Pflegeversicherung ist eine Sanktionsregelung gesetzlich festzuschreiben, wonach der Träger der Eingliederungshilfe, wenn ein Gesamtplanverfahren nicht innerhalb einer zu definierenden Frist nach der Antragstellung durchgeführt wird, dem Antragstellenden für jede begonnene Woche der Fristüberschreitung unverzüglich 70 € zu zahlen hat (Analog zur Regelung in § 18c Abs. 5 SGB XI).
g) Pflegerische Bedarfe müssen erfasst und gedeckt werden.
Pflegerischen Bedarfen wird im Gesamtplanverfahren bislang nur unzureichend Rechnung getragen. Damit die pflegerischen Bedarfe, soweit sie Teil der Eingliederungshilfe nach § 103 SGB IX sind, bedarfsgerecht erbracht werden können, sind sie entsprechend im Rahmen einer einheitlichen Bedarfsfeststellung zu erheben und zu planen.
Zudem sollte eine Ergänzung des § 125 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX, wonach pflegerische Bedarfe als wesentliches Leistungsmerkmal in der Leistungsvereinbarung aufzunehmen sind, erfolgen.

6. Tarifvertragliche Vergütung darf nicht in Frage gestellt werden.
Der zunehmende Personalmangel ist für Leistungserbringer sowie Leistungsberechtigte, die das Persönliche Budget nutzen, eine große Herausforderung. Für Leistungsberechtigte bedeutet es eine massive Teilhabeeinschränkung, wenn Leistungen aufgrund von Personalmangel nicht mehr erbracht werden können. Dass die Bezahlung nach tarifvertraglich vereinbarten Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchenrechtlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann (§ 124 Abs. 1 Satz 6 SGB IX), ist ein unverzichtbarer Baustein, das Arbeitsfeld für Beschäftigte attraktiv zu gestalten.

7. Das Vertragsgeschehen ist effizienter zu gestalten.
Das Vertragsgeschehen zwischen Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern muss effizienter gestaltet werden.

a) Wir brauchen Verhandlungen auf Augenhöhe.
Der Abschluss von Landesrahmenverträgen sowie Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen n muss begünstigt und deren ordentliche Kündigung erschwert werden. Tragfähige Vereinbarungen werden getroffen, wenn Verhandlungen auf Augenhöhe stattfinden. Die Voraussetzungen für die Mitwirkung der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen müssen verbessert werden. Die Interessenvertretungen sind rechtlich, finanziell und organisatorisch zu stärken und ihr Mitverhandlungs- und Mitbestimmungsrecht in § 131 Abs. 2 SGB IX neu zu formulieren.
b) Schiedsstellenwesen ist unverzichtbar und muss ausgebaut werden.
Die Schiedsstellenfähigkeit sowohl der Vergütungs- als auch der Leistungsvereinbarungen sind zu erhalten, da beide inhaltlich miteinander verschränkt sind und eine unterschiedliche Verfahrensweise nicht sachgerecht wäre. Auch trägt die Schiedsstelle zu einem effektiven Rechtsschutz bei und vermeidet entsprechend der Intention des Bundesgesetzgebers komplexe Gerichtsverfahren, was nicht in Frage gestellt werden darf.
- Das Schiedsstellenwesen ist trotz seiner enormen Bedeutung für das Vereinbarungswesen derzeit vielerorts überlastet. Dies führt zu wirtschaftlichen Belastungen bei den Leistungserbringern. Um die Probleme bei der Berufung der Schiedsstellenvorsitzenden zu lösen, sollte geprüft werden, ob diese auch hauptamtlich besetzt und entsprechend ausgestattet werden können.
- Gesetzlich sollte eine konkrete Frist, z. B. drei Monate, festgelegt werden, innerhalb der die Schiedsstelle zu entscheiden hat.
- Schiedsstellen sind bundesgesetzlich zu verpflichten, angemessene Transparenz herzustellen und die Schiedsstellenentscheidungen anonymisiert zu veröffentlichen.
Das Erfordernis der Schriftlichkeit für ein Vertragsangebot (vgl. § 126 Abs. 1 S. 1 SGB IX) ist um ein digitales Verhandlungs- und Schiedsverfahren bundesgesetzlich zu ergänzen.


Berlin, 13.11.2025

Das Eckpunktepapier in barrierfreier Version zum Download:

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