Der DBR beim Stakeholdergespräch zur Sozialstaatsreform

12.09.2025 - Am 12. September 2025 hat Prof. Dr. Sigrid Arnade den DBR bei Stakeholder-Gesprächen vertreten. Das ganze Statement zum Nachlesen.

Statement von Prof. Dr. Sigrid Arnade, Mitglied im DBR-Sprecher*innenrat in Vertretung des DBR beim Stakeholder-Gespräch mit der Kommision zur Sozialstaatsreform

Vier Vorbemerkungen:

  • Erstens: Die Richtschnur der DBR-Politik sind die Menschenrechte, insbesondere die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes, das Benachteiligungsverbot. Dabei möchten wir betonen, dass Menschenrechte nicht verhandelbar und nicht unter einen Kostenvorbehalt zu stellen sind. Insofern müssen wir die Aussagen von Kanzler Friedrich Merz vom Juni auf dem Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin, dass die Ausgaben der Eingliederungs- und Jugendhilfe "nicht länger akzeptabel" seien, deutlich zurückweisen, wenn Leistungen gekürzt werden sollen.
  • Zweitens: In diesem Zusammenhang warnen wir davor, den Eindruck zu erwecken, als seien die Schwächsten der Gesellschaft für die angespannte Haushaltslage verantwortlich. Einfache Schuldzuweisungen mögen bei vielen Menschen verfangen, sind aber letztlich demokratiegefährdend.
  • Drittens: Als Deutscher Behindertenrat freuen wir uns zwar, hier eingeladen zu sein, aber ein 10-Minuten-Statement erfüllt nicht die Ansprüche an Partizipation, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifikationder UN-BRK verpflichtet hat.
  • Viertens: Heute soll es primär um das SGB II und das SGB XII gehen. Da aber von steuerfinanzierten Leistungen die Rede war und der Kanzler die Eingliederungshilfe angesprochen hat, thematisieren wir die Leistungen nach dem SGB IX zu sprechen.

Zur Eingliederungshilfe
Nach § 90 SGB IX ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe, Leistungen bedarfsgerecht, individuell und personenzentriert zu erbringen, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

Pauschalierungen bei der Leistungserbringung, wie im Koalitionsvertrag angesprochen, sind dementsprechend nach § 116 Absatz 1 SGB IX nur für wenige Leistungen als pauschale Geldleistungen zulässig und nur, wenn die Leistungsberechtigten dem zustimmen.

Eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe muss auf der Basis faktenbasierter Analysen erfolgen. Die Ergebnisse der BTHG-Evaluation und der Teilhabeverfahrensberichte der BAR bieten hierfür eine tragfähige Grundlage.

Vielfach ist neuerdings von immensen Kostensteigerungen in der Eingliederungshilfe die Rede. Fakt ist aber, dass es bei der Eingliederungshilfe seit 2018 Kostenzuwächse, die auf Leistungserweiterungen für Menschen mit Behinderungen zurückzuführen sind, nur im einstelligen Prozentbereich gibt. Der weitaus überwiegende Teil der Kostensteigerungen ist vielmehr auf Tarifsteigerungen, die allgemeine Kostenentwicklung, steigende Fallzahlen, den demografischen Wandel und ineffektives Verwaltungshandeln zurückzuführen.

So deckt der Teilhabeverfahrensbericht an vielen Stellen eine ineffiziente Umsetzung der gesetzlichen Regelungen auf. Er zeigt beispielsweise, dass bis zu 80 Prozent der Widersprüche erfolgreich ist. Dies wurde von den Trägern jedoch bislang nicht zu einer konsequenten Optimierung der Prozesse genutzt.

Konkrete Potentiale der Effizienzsteigerung im Verwaltungshandeln:
  • Das Antragsverfahren muss entbürokratisiert werden, um Effizienzreserven bei den Rehabilitationsträgern zu heben.
  • Der bei der BAR entwickelte Gemeinsame Grundantrag aller Rehabilitationsträger muss nun umgehend und verbindlich eingeführt werden.
  • Die Bedarfsermittlung muss vereinfacht und vereinheitlicht wird. Der Deutsche Behindertenrat fordert, dass auf der Grundlage der vielfältigen Bedarfsermittlungsverfahren aus den verschiedenen Bundesländern nun ein einfaches und möglichst schlankes Instrument entwickelt wird, mit dem die Bedarfe nach § 118 SGB IX ICF-orientiert bundeseinheitlich ermittelt werden.
  • Die Verfahren bis zur Erteilung der Bescheide sind oft sehr lang. Die Regelungen zur Genehmigungsfiktion und zur Erstattung selbstbeschaffter Leistungen in § 18 Absatz 1 bis 4 SGB IX sollten daher – anders als derzeit in § 18 Absatz 7 SGB IX geregelt – endlich auch in der Eingliederungshilfe gelten. Wenn die Genehmigungsfiktion eintritt, besteht auch der Sachleistungsanspruch.
  • Zudem werden Bescheide zur Bewilligung von Leistungen entgegen höchstrichterlicher Rechtsprechung (vergleiche BSG 28.1.2021 AZ B 8 SO 9/19 R) zum Teil noch immer befristet - trotz gleichbleibender Bedarfe. Die dadurch erforderliche Neubeantragung und Neubescheidung bedeutet sowohl für Leistungsberechtigte, als auch Leistungsträger und Leistungserbringer teilweise einen erheblichen Verwaltungsaufwand, der vermeidbar ist.
  • Neben einer vereinheitlichten Bedarfsfeststellung bedarf es auch mehr Transparenz hinsichtlich der Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung, Unterstützung und Förderung.
  • Festgestellte Bedarfe brauchen passgenaue Angebote. Hinsichtlich der Angebotsinfrastruktur bedarf es mehr Transparenz, da dies auch die konkrete Organisation des Leistungsgeschehens für den Betroffenen erleichtert.
  • Als Deutscher Behindertenrat fordern wir schon lange, Leistungen der Eingliederungshilfe einkommens- und vermögensunabhängig bereitzustellen. Es gibt Berechnungen, denen zufolge sich ohne Prüfungen rund 20 Millionen Euro jährlich einsparen ließen.

Von der Exklusion zur Inklusion
Abschließend soll nochmals die UN-Behindertenrechtskonvention angesprochen werden. Nach der zweiten Staatenprüfung Deutschlands im Spätsommer 2023 veröffentlichte der UN-Fachausschuss seine "Concluding Observations ", also seine Abschließenden Bemerkungen am 3. Oktober 2023. Das sind sozusagen die Hausaufgaben für Bund und Länder für die kommenden zehn Jahre. Die Lektüre ist sehr zu empfehlen!

Der Ausschuss kritisiert besonders die hohe Exklusionsquote in Deutschland und drängt auf rasche Deinstitutionalisierung , vor allem in den Bereichen Wohnen, Bildung und Arbeit. Wenn es in diesem Zusammenhang um Kosteneffizienz geht, dann fragt es sich, wie lange sich Deutschland noch das Nebeneinander von zwei Bildungssystemen meint leisten zu können. Wenn endlich die Förderschulen aufgelöst würden und die darin gebundenen Ressourcen für den gemeinsamen Unterricht im Regelschulsystem zur Verfügung stünden (s. Sophia Falkenstörfer: Inklusive Schulbildung in Deutschland, in: APuZ 32-35/2025. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2025), dann könnten letztlich alle, Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen, Lehrkräfte sowie die Gesamtgesellschaft davon profitieren.

Das ganze Statement als PDF gibt es hier zum Download:

 Statement des Deutschen Behindertenrats (DBR) beim Stakeholder-Gespräch zur Sozialstaatsreform (130 KB)
Statement von Prof. Dr. Sigrid Arnade für den Deutschen Behindertenrat (DBR) beim Stakeholder-Gespräch am 12.09.2025

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